Eiskalter Wahnsinn
ihm ein. Er konnte eines der Tiefkühlgeräte benutzen. Ja, vielleicht fand sie Platz in der Tiefkühltruhe.
32. KAPITEL
Luc Racine saß in der zweiten Reihe der Klappstühle. Die erste war reserviert, blieb aber frei, sodass er einen ungehinderten Blick auf den Sarg vorne hatte. Er sah deutlich das stark geschminkte Gesicht der Frau mit den zu rosigen Wangen. Er fragte sich, ob sie jemals einen derart tiefroten Lippenstift und so viel Rouge benutzt hätte, was ihr ein maskenhaftes Aussehen verlieh.
Luc zog sein kleines Notizbuch aus der Hemdtasche, schlug es auf und notierte sich das Datum. Dann schrieb er: „Kein Make-up. Absolut kein Make-up“ und unterstrich absolut. Er ließ das Notizbuch offen und sah sich um.
Marley stand bei der Tür und wartete auf jemanden, der über den Flur kam. Vielleicht auf diese junge Reporterin. Er hatte sie beim Eintreten im Empfangsbereich gesehen. Zum Glück hatte sie ihn nicht erkannt. Aber wahrscheinlich sah sie ohne ihre Brille sowieso nichts.
Marley stand in seiner Bestatterpose da, wie Luc das nannte. Die Schultern straff, Rücken gerade, die Hände unterhalb der Taille wie im Gebet gefaltet, das Kinn erhoben. So strahlte er eine erstaunliche Stärke und Autorität aus. Und dann dieser Blick, der zur Haltung passte.
Luc hatte Jake Marley so oft beobachtet, dass er die Veränderungen im Ausdruck erkannte, obwohl sie sich blitzartig vollzogen. Der Mann war ein Meister seines Faches. Er konnte von Zorn, Sarkasmus oder sogar Langeweile im Sekundenbruchteil zu tiefem Mitgefühl überwechseln. Dieses zur Schau gestellte Mitleid war jedoch nicht zwangsweise aufrichtig. Luc wusste, dass Jake Marleys Miene aufgesetzt war. Sein Mienenspiel war Teil seines Jobs, und er hatte es kultiviert und perfektioniert wie ein Künstler das Auge für Details oder er früher als Briefträger die Fähigkeit, sich Zahlenreihen einzuprägen. Doch etwas an Marleys Fähigkeit schien … hm, er hatte das Wort vergessen. Manchmal fiel ihm nicht das richtige Wort ein. Er kratzte sich nachdenklich das Kinn und versuchte sich zu erinnern.
Ach du Schreck! Er hatte vergessen, sich zu rasieren.
Er blickte auf seine Füße … auch das noch! Er war in Hausschuhen gekommen.
Mit einem kurzen Blick zu Marley vergewisserte er sich, ob der etwas bemerkt hatte. Vielleicht konnte er sich unauffällig durch die Hintertür verdrücken. Er drehte sich auf seinem Stuhl um. Verflixt. Dieser Raum hatte keine Hintertür. Und Marley begleitete nun zwei Frauen herein und führte sie an den Sarg. Er nickte Luc grüßend leicht zu, und das war’s. Seine Aufmerksamkeit galt den beiden Trauernden, und Luc wusste, dass er nicht befürchten musste, von Marley weiter beachtet zu werden.
Die ältere Frau hatte künstlich silbriges Haar und trug eine große Brille mit rotem Rand, die ihr kleines Taubengesicht zu verschlucken schien. Bei jedem Schritt stützte sie sich auf ihre Begleiterin. Diese Begleiterin vermittelte Luc die Zuversicht, dass Marley ihm gewiss keinerlei Beachtung mehr schenken würde. Sie trug ein enges blaues Kostüm, das ihre üppige Figur an genau den richtigen Stellen betonte. Sie hatte makellose weiße Haut, was durch das zurückgekämmte lange schwarze Haar hervorgehoben wurde.
Ja, sie würde Jake Marleys Aufmerksamkeit vollkommen fesseln. Er hatte ihr bereits eine Hand in Taillenhöhe auf den Rücken gelegt, während er sie nach vorn zum Sarg geleitete. Luc vermutete, dass Marley die Hand lieber etwas tiefer gehalten hätte, doch eine solche Frechheit würde er sich natürlich nicht erlauben. Er war verbindlich und aalglatt. Luc hatte oft genug mitbekommen, wie er beim Plaudern die hübscheren Kundinnen leicht tätschelnd an Arm oder Schulter berührte oder ihnen eine Hand auf den Rücken legte. Ja, er kannte alle vertraulichen Gesten.
Vielleicht fanden die Frauen die Berührungen sogar tröstlich. Marley war nicht aufdringlich, und er war auch kein übel aussehender Mann. Etwas schlicht vielleicht, aber wenn er in einem seiner schwarzen Fünfhundert-Dollar-Anzüge steckte, verströmte er Stärke, Trost und, ja, auch Autorität. Frauen schienen Männer mit Autorität zu mögen, besonders in Momenten, in denen sie verletzlich waren.
Luc beobachtete die zwei Frauen am Sarg, die zu ihrer lieben Verstorbenen hinabblickten und im Flüsterton miteinander sprachen, wie um die Tote nicht zu wecken.
„Ihr Haar sieht so schön aus“, sagte die Altere und fügte hinzu: „Sie hätte diese Lippenstiftfarbe
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