Eiskalter Wahnsinn
ich hab es ihr noch nicht erzählt, weil ich etwas getan habe … und na ja, ich bin nicht sicher, ob sie darüber sehr erfreut ist.“
Dr. Patterson stemmte die Ellbogen auf den Tresen und lehnte sich vertraulich zu ihm hinüber, als wolle sie ihm ein Geheimnis entlocken. „Und was genau haben Sie getan, Agent Tully?“
„Ich habe einen echten Maggie O’Dell abgezogen.“
Gwen lächelte. „Ach du lieber Gott, dann hat sie ja schon einen ziemlich schlechten Einfluss auf Sie. Was haben Sie gemacht?“
Tully zog den Laptop näher und klickte auf das AOL-Icon. „Ich habe ihm eine E-Mail geschickt.“
„Sie haben Sonny eine E-Mail geschickt? Das klingt gar nicht so unverzeihlich, das könnte Maggie auch getan haben.“
„Da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe die E-Mail über Joan Begleys Adresse geschickt.“
Er wartete auf ihre Reaktion. Sie nippte an ihrem Wein und betrachtete ihn über den Rand des Glases hinweg. Schließlich sagte sie: „Sie glauben, Joan ist schon tot, oder?“
Er fühlte sich ertappt und spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, weil er – ja, weil er die Hoffnung aufgegeben hatte, Joan Begley noch lebend zu finden. Vor allem, wenn Sonny der Killer vom Steinbruch war. Nach den E-Mails, die Sonny und Joan in den Tagen vor ihrem Verschwinden getauscht hatten, war er überzeugt, dass Sonny sie entführt und sehr wahrscheinlich bereits getötet hatte.
„Ich möchte Ihnen einige der E-Mails zeigen“, erwiderte er als Antwort auf ihre Frage. „Und dann sagen Sie mir, was Sie denken.“
Er rief die E-Mails am Monitor auf. Gwen trat hinter ihn und sah ihm über die Schulter. Vielleicht lag es an der Wirkung des Weines, aber Tully fand es plötzlich schwierig, sich auf den Monitor zu konzentrieren. Dr. Patterson beugte sich zum Lesen leicht vor, und er konnte nur denken, dass sie gut roch – wie frische Blumen nach einem Frühlingsregen.
„Das klingt fast, als sei er auf Joans Kampf mit ihrem Gewicht eifersüchtig gewesen“, fuhr er fort.
„Eifersüchtig?“
„Er sieht in ihrem Leiden den Grund für Mitgefühl und Anteilnahme ihrer Umwelt.“
„Sie denken, er ist eifersüchtig auf die Schwächen und Behinderungen seiner Opfer?“
„Genau. Hier erzählt er sogar, dass er wünscht, er hätte auch einen Grund, um seinen Mitmenschen Leid zu tun. Und hier …“ er ließ den Text durchlaufen, bis er die Stelle fand, „hier vertraut er ihr an, dass er als Kind grauenhafte Magenschmerzen hatte und seine Mutter ihm nie glaubte. Er schreibt: ,Sie gab mir Medizin, aber danach wurde es nur noch schlimmer.‘ Er berichtet weiter, dass er es dann aufgegeben hat, von seinen quälenden Schmerzen zu erzählen, weil ihm niemand glaubte. Der erinnert stark an einen Hypochonder.“
Tully spürte ihr Haar über seine Schläfe streichen, als sie es sich aus dem Gesicht schob, um den Text auf dem Monitor zu lesen. Er versuchte sich zu konzentrieren. Was hatte er noch sagen wollen?
„Jedenfalls habe ich mir so meine Gedanken gemacht. Wenn er diese schrecklichen Magenschmerzen hatte, sie vielleicht immer noch bekommt, aber kein Arzt etwas feststellen konnte, dann wurde ihm vermutlich bedeutet, dass er ein Simulant ist. Die Ärzte haben ihm vielleicht gesagt, dass es die Schmerzen nur in seiner Vorstellung gibt. Zugleich sieht er Menschen in seiner Umgebung, die durch ihre Leiden Anteilnahme und Verständnis wecken: ein Mann mit einem inoperablen Hirntumor, eine Frau, die Brustkrebs überlebt hat, und so weiter.“
Nach einem Moment fuhr er fort: „Ihre Erkrankung lieferte die Rechtfertigung ihrer Qualen. Er will diese Rechtfertigung auch. Vielleicht so sehr, dass er sie zu bekommen glaubt, wenn er ihnen die erkrankten Körperteile nimmt. Vielleicht vermittelt ihm ihr Besitz ein Gefühl von Stärke und Dominanz.“
Gwen ging auf die andere Seite des Tresens, setzte sich und sah ihn versonnen an. Er fürchtete schon, sie werde seine Argumentationskette als krauses Zeug abqualifizieren, stattdessen erwiderte sie: „Demnach hat er keinen Grund, Joan am Leben zu lassen?“
Sie erwartete keine Antwort, da sie zu demselben Schluss gelangt war wie er. Sie stand auf, ging zum Herd und machte sich an der Soße zu schaffen, die zu lange geköchelt hatte. „Ich kann nicht anders, ich fühle mich teilweise verantwortlich für das, was ihr zugestoßen ist“, gestand sie zu seiner Überraschung.
„Verantwortlich? Aber warum denn?“
„Ich weiß, das klingt albern.“ Sie lachte nervös
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