Eiskaltes Schweigen
weltfremde Weise wohl immer noch.«
»Das stimmt. Sie bedeuten ihm immer noch sehr viel.«
Ich nahm Durians Buch zur Hand, blätterte die Seiten durch.
»Was ich mich die ganze Zeit frage: Warum hat er mich nicht getötet? Mehr als einmal habe ich geglaubt, jetzt ist es so weit. Aber er hat es nicht getan, sondern mich stattdessen tagelang spazierengefahren und sein Essen mit mir geteilt. Immer wieder hat er davon gesprochen, dass er mit mir zusammen sterben wird. Seltsamerweise hat er aber zu keinem Zeitpunkt den Eindruck eines Lebensmüden auf mich gemacht. Haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür?«
Irina Durian sah mir mitfühlend ins Gesicht, lächelte wieder ihr warmes Lächeln, das unter anderen Umständen gutgetan hätte. Wie hatte Firlei gesagt, der Architekt? Sie war eine sehr weibliche Frau. Und sie war sich dessen sehr bewusst.
»Da kann ich leider nur raten. Seine ersten drei Opfer hat er einfach überfallen. Er hat nicht diskutiert, vermute ich, nicht argumentiert, sondern zugestochen. Bei Ihnen war es anders. Mit Ihnen hat er gesprochen. Deshalb waren Sie vielleicht kein anonymer Feind mehr für ihn, sondern ein Mensch. Das andere, seine angeblichen oder wirklichen Selbstmordpläne, dafür habe ich keine Erklärung.«
Immer noch lag Durians Manuskript vor mir. Sein Buch der Kränkungen. Das schriftliche Geständnis eines Mörders, abgeliefert, lange bevor er seine Taten begangen hatte. Ich nahm die Brille ab und sah hinaus.
Die Triebwerke des Jumbojets waren lauter geworden, begannen zu singen und zu brausen. Ein Ruck ging durch die Maschine, sie rollte rückwärts.
Zehn nach elf.
Noch eine Viertelstunde.
40
Ich wandte mich wieder Irina Durian zu. Ich hatte wirklich keine Zeit, Flugzeugen bei den Startvorbereitungen zuzusehen. Blätterte in dem Buch ihres Mannes, der in der vergangenen Nacht gestorben war, was sie nicht wusste.
»Beim Wiederlesen ist mir eine Kleinigkeit aufgefallen. Vielleicht ist es völlig nebensächlich, aber ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören.«
Ich blätterte bis zu einer bestimmten Stelle etwa zehn Seiten vor dem Ende. Irina Durian beugte sich vor und betrachtete die Seiten aufmerksam.
»Mir fällt nichts auf, tut mir leid.« Sie sah mich verständnislos an. »Es ist eindeutig seine Handschrift, falls Sie das meinen.«
»Es ist nicht die Schrift, es ist die Tinte. Sehen Sie, hier: Mitten auf der Seite wird der Strich dünn und dann plötzlich wieder dicker. Danach hat die Tinte eine andere Farbe. Sie ist eine winzige Spur heller geworden.«
»Jetzt, wo Sie es sagen â¦Â Vielleicht war die dunkle zu Ende?«
»Das war auch mein erster Gedanke. Aber das Merkwürdige ist â¦Â« Ich blätterte zurück bis zum Beginn von Kapitel zwei. »Beim Kapitel John Karenke benutzt er auch schon die hellere Tinte. Beim dritten Kapitel wird die Schrift dann wieder dunkler, und erst auf den letzten Seiten wieder heller.«
»Und was könnte das bedeuten?«
Ich lehnte mich zurück, massierte meine müden Augen. Meine Kondition war bei Weitem noch nicht wieder die alte.
»Ich sehe nur eine Erklärung: Er hat das Kapitel John Karenke erst später geschrieben, als letztes, und dann zwischen die anderen geschoben. Leider hat er die Seiten nicht durchnummeriert.«
»Wenn es so wäre â was würde es bedeuten?«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir das sagen.«
Ich setzte die Brille wieder auf, beobachtete ihre Miene. Sie blieb unbewegt, ratlos, fragend.
»Vielleicht ist er erst später auf den Gedanken gekommen,John auf â¦Â seine Liste zu setzen?«, rätselte sie. »Vielleicht hat er Johns Handeln zunächst nicht die Bedeutung beigemessen und hat sich erst nach und nach in seine Eifersucht hineingesteigert?«
»Und damit die Reihenfolge stimmt, hat er das Kapitel dann zwischen die anderen geschoben.« Ich nickte. »Das wäre eine Erklärung.«
DrauÃen war ein freundlicher Tag. Mitte Februar, zum ersten Mal in diesem Jahr konnte man den Frühling ahnen. Der Winter lag nun hoffentlich hinter uns, mit seiner Dunkelheit, der Kälte, dem unglaublichen Schnee.
Plötzlich hatte ich die Nacht wieder vor Augen, in der Anita Bialas starb. Stellte mir vor, wie Durian durch die Dunkelheit fuhr, durch dieses eiskalte Schweigen einer sternenlosen Winternacht, das Messer
Weitere Kostenlose Bücher