Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
Joentaa war dennoch sicher, dass der Täter es hatte. Er hatte es mitgenommen, wie er das Bild mitgenommen hatte, die blasse Landschaft, die bei Ojarantas in einer kaum beachteten Nische gehangen hatte.
Was hatte den Mann dazu bewogen?
Hatte er vielleicht auch Fotos von Laura Ojaranta und Johann Berg an sich genommen?
»Kann ich mal sehen?«, fragte Niemi.
Joentaa gab ihm das Negativ. Niemi hielt es gegen das Licht und sah es sich lange an. Dann wandte er sich den Fotos zu, die inzwischen in Folien auf einem runden Glastisch lagen. »Ich glaube, sie war eine sehr schöne Frau«, sagte Niemi nach einer Weile. »Ich meine, wirklich schön, nicht nur hübsch.« Er betrachtete die Fotos und schien nach Worten zu suchen, die seinen Eindruck noch deutlicher hätten beschreiben können. »Irgendwie besonders«, sagte er schließlich.
Joentaa nickte, aber er hatte nur mit einem Ohr zugehört.
Er dachte darüber nach, warum er dem Anblick der Leiche nicht standgehalten hatte. Warum war es ihm so schwergefallen, sich in dem Schlafzimmer aufzuhalten, warum war er gleich hinuntergegangen, unter dem Vorwand, mit der Inhaberin des Cafés sprechen zu müssen?
Denn nichts anderes war es gewesen. Ein Vorwand, ein guter Grund, das Bild der toten Frau hinter sich zu lassen, bevor er es gesehen hatte.
Warum hatte er Angst davor gehabt, die Frau anzusehen? Was war das für eine Anspannung gewesen, die er gespürt hatte, als Heinonen sie über den Mord informiert hatte?
Er wandte sich ab und ging ins Schlafzimmer. Niemi sagte noch etwas, aber er hörte nicht.
Er zwang sich, nicht stehen zu bleiben.
Er trat an das Bett heran und beugte sich über die Leiche.
Er atmete die Züge ihres Gesichts ein, und er begriff, was er gefühlt hatte.
Als Heinonen sie über den Mord informiert hatte, war er erleichtert gewesen. Erleichtert, wieder abgelenkt zu sein, wieder einen Tatort besichtigen und ein Rätsel lösen zu müssen. Erleichtert, weiterleben zu können, solange die Morde das Wissen um Sannas Tod überdeckten.
Im Stillen war er froh darüber, dass der Täter noch nicht gefasst war, in einem Winkel seines Bewusstseins wollte er, dass der Täter weitermordete, und er hatte die Schieflage seiner Gedankenwelt ausgeglichen, indem er die tote Frau einfach nicht angesehen hatte.
Als er Jaana Ilander ins Gesicht gesehen hatte, als er auf sie hinabgesehen hatte wie auf Sanna, die von einer Sekunde auf die andere nicht mehr geatmet hatte … hatte er begriffen, dass der Mord, der Tod eines Menschen, ihm Leben eingehaucht hatte.
22
Am Abend fuhr Kimmo Joentaa nach Stockholm.
Er dachte erst darüber nach, als er über die Reling auf das glitzernde Wasser hinabsah und spürte, wie sich das Schiff langsam in Bewegung setzte.
Er war einem Impuls gefolgt. Er hatte im Wohnzimmer gestanden und auf den See gestarrt, wie er es seit Wochen machte, Abend für Abend.
Er hatte wieder die Vergangenheit gesehen, Bilder von Sanna.
Er war in den Wagen gestiegen und ins Dunkel gefahren. Er hatte beschleunigt, bis er so schnell war, dass er die Kontrolle verlor und die Bilder in tausend Fetzen rissen.
Er hatte den Wagen am Hafen geparkt und ein Ticket für die Fähre gekauft. Die junge Frau am Schalter hatte irritiert nach seinem Gepäck gefragt.
Als er in der Kabine auf dem Bett gesessen hatte, waren die Bilder zurückgekehrt. Er war nach oben gegangen und hatte sich von der Menschenmenge auf das Deck treiben lassen. Er hatte versucht, sich auf die Gespräche der anderen zu konzentrieren, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.
Viele Passagiere waren schon vor der Abreise betrunken. Er hatte sich darauf konzentriert zu beobachten, wie sie Bierflaschen aus weißen Plastiktüten hervorholten.
Als sich das Schiff in Bewegung setzte, begriff er, dass seine Flucht nicht gelingen würde, weil dieses Schiff Erinnerungen barg, genau wie das Haus am See, genau wie der Strand von Naantali und jeder Winkel der Stadt.
Erinnerungen, denen er nie entkommen würde.
Er sah, wie die Lichter von Turku immer kleiner wurden, und erinnerte sich an die Schiffsreise, die er mit Sanna unternommen hatte, an einem Wochenende im Sommer, als Sanna noch unsterblich gewesen war.
Er war damals in der Ausbildung gewesen, und Sanna hatte gerade in dem Architekturbüro angefangen. Das war der Anlass für die Wochenendreise gewesen, ein Grund, zu feiern. Sanna hatte hemmungslos getrunken, er hatte beim Black Jack und an den Geldautomaten sinnlos Unsummen verspielt.
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