Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
Wohnzimmer. Er versuchte zu sehen, was der Mann jetzt fühlte, aber er sah nichts.
Er sah nur, dass er ein Foto vom Boden aufhob, eines von Jaana Ilander, die gerade einen Fallschirmsprung absolviert hatte.
Enthielt dieses Foto einen Hinweis auf seine Person?
Oder wollte der Täter die Frau, die er getötet hatte, mithilfe eines Fotos am Leben halten?
Dann zerstreute sich das Bild. Er sah nicht, wie der Mann die Wohnung verließ. Er sah nicht, ob er ruhig oder angespannt war. Er sah nicht, ob er ging oder rannte.
Er öffnete die Augen.
Er sah den weißhaarigen Hünen, der eine bekannte Melodie summte. Er sah die Paare auf der Tanzfläche im unnatürlich roten Licht, das die Scheinwerfer von der Bühne warfen.
Er bezahlte das Wasser und ging in die Kabine. Zwei der vier Betten waren schon belegt, die Männer schliefen.
Er verzichtete darauf, sich zu waschen, um die beiden nicht zu wecken. Er legte sich in seiner Straßenkleidung auf das Bett und spürte erleichtert, dass es ihm nicht schwerfallen würde, einzuschlafen. Er hörte das Atmen der beiden Männer und dachte, dass sich niemand mehr sicher fühlen konnte, wenn ein Mörder herumlief, der Menschen tötete, während sie schliefen.
Zunächst hielt er den Gedanken für banal, überdreht und unsinnig, aber kurz bevor er einschlief, fragte er sich, ob der Täter genau das wollte.
Vielleicht tötete er, damit niemand mehr sicher war.
Niemand, nur er selbst.
23
»Aufwachen, hei, wir sind da!«
Joentaa öffnete die Augen und sah in das Gesicht eines Mannes, den er nicht kannte.
»Wir sind in Stockholm, Sie müssen sich beeilen, wenn Sie hier an Land gehen wollen, die Fähre fährt gleich zurück nach Turku.«
Joentaa setzte sich aufrecht. »Danke.«
Der Mann nickte, nahm seinen Koffer und trat auf den Gang. Joentaa blieb eine Weile sitzen und versuchte, wach zu werden. Dann stand er auf und ging auf schwachen Beinen ins Bad. Während er sich rasierte und wusch, erwog er, tatsächlich direkt nach Turku zurückzufahren.
Er dachte darüber nach und wusste gleichzeitig, dass er nicht zurückfahren würde.
Oben traf er den Mann wieder, der ihn geweckt hatte. Er trug einen glatt gebügelten beigen Anzug. Er musste ein vergleichsweise merkwürdiges Bild abgeben in den zerknitterten Kleidern, in denen er geschlafen hatte.
»Sie haben geschlafen wie ein Toter«, rief der Mann ihm zu. »Wohl eine lange Nacht gehabt, wie?«
»Eigentlich nicht«, sagte Joentaa, als er neben ihm stand. »Aber nochmals danke. Ich fürchte, ich wäre wirklich erst auf dem Rückweg nach Turku aufgewacht.«
»Keine Ursache«, sagte der Mann.
Als sie im kalten Wind am Hafen standen, verabschiedeten sie sich voneinander. Der Mann winkte zielstrebig ein Taxi heran und rief noch einmal »Auf Wiedersehen«, während er einstieg.
Joentaa stand eine Weile.
Er fragte sich, wie lange er an dieser Stelle stehen müsste, um zu erfrieren.
Er ging in eine Telefonzelle und blätterte in einem abgenutzten, halb zerrissenen Telefonbuch, auf dem etliche Zigaretten ausgedrückt worden waren. Fast eine halbe Seite gehörte dem Namen Söderström. Dreimal Annette, siebenmal nur A. Söderström. Er dachte an die Einträge, die im Telefonbuch von Turku standen:
Arto und Laura Ojaranta.
Kimmo und Sanna Joentaa.
Er riss die Seite aus dem Buch und nahm sich ein Taxi.
Während der Wagen langsam über die verschneiten Straßen glitt, überlegte er, was Annette Söderström sagen würde, wenn er vor der Tür stand. Wenn er sie überhaupt fand. Wenn sie überhaupt da war. Er wusste nicht, was er sagen würde, um seinen Besuch zu begründen. Es gab keinen Grund dafür. Er wusste selbst nicht, was er eigentlich wollte.
Als er in Turku losgefahren war, hatte er nur gewusst, dass er die Stadt verlassen musste, dass er Annette Söderström sehen wollte, sofort. Die Frage nach dem Warum hatte er ausgeklammert, er hatte es genossen, endlich nicht mehr nachzudenken, endlich in Bewegung zu sein, am liebsten für immer.
Als sie bei der ersten Adresse angekommen waren, stieg Joentaa aus und bat den Fahrer zu warten.
Der Name Annette Söderström stand auf einem von vielen Klingelschildern. Er war mit der Hand geschrieben worden in klotzigen Buchstaben. Annette Söderström wohnte im neunten von vierzehn Stockwerken eines Hochhauses. Joentaa war sich sicher, dass es die falsche Adresse war, aber er klingelte. Die Stimme, die sich meldete, gehörte einer alten Frau, die offensichtlich nicht das geringste
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