Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
hatten ihn gebeten, sich zu melden, wenn er in Helsinki angekommen sei.
Er dachte, dass ihm Marion viel bedeutete, obwohl er sie seit Jahren mit verschiedenen Frauen betrog und sie seit Langem den größten Teil ihrer gemeinsamen Zeit damit ausfüllten zu streiten.
Er fragte sich, warum Marion ihm viel bedeutete.
Er fragte sich, was in Jaana Ilander vorgegangen war, als sie einen Stift genommen und zu schreiben begonnen hatte, Tag für Tag: Dear Daniel, I hope you are fine …
Briefe, die nie beantwortet worden waren.
Immer freundliche, liebevolle Briefe.
Faszinierende, beängstigende Briefe.
Er hatte jeden gelesen.
Er dachte an das Foto, das der alte Mann neben ihm aus seinem Portemonnaie genommen hatte, an die beiden Mädchen in roten Mänteln. Jaana hatte ihm damals in Italien auch ein Foto gezeigt, ein Foto ihres Neffen, der gerade geboren worden war. Er erinnerte sich plötzlich sehr genau an diese Situation. Sie hatten in einem Restaurant am Strand Nudeln mit Tomatensauce gegessen. Jaana hatte gesagt, dass er den kleinen Teemu, so hieß der Neffe, der Sohn ihrer Halbschwester, unbedingt mal sehen müsse, dass er unbedingt nach Finnland kommen müsse. Er hatte gesagt, dass er das ganz sicher tun werde, versprochen.
Einmal hatte Jaana Ilander ihn angerufen, einige Wochen, nachdem sie sich in Italien kennengelernt hatten. Er hatte sofort gespürt, dass sie sich Sorgen um ihn gemacht hatte. Sie war erleichtert gewesen, seine Stimme zu hören, und hatte gesagt, dass sie sich freuen würde, wenn er ihr schreiben würde. Ihre Stimme war nicht fordernd gewesen, sondern unerträglich freundlich. Sie hatte vorgeschlagen, ihn in den Semesterferien zu besuchen, und er hatte geantwortet, dass man das ins Auge fassen könnte.
Er erinnerte sich jetzt sehr genau an das Gespräch.
Er hatte gewartet, bis sie nichts mehr zu sagen hatte.
Er hatte sich verabschiedet und aufgelegt.
An den Briefen hatte das nichts geändert. Liebevolle, ausführliche Briefe, schnörkellose, klare Handschrift, gut formuliert, spannend. Nur auf ihr Vorhaben, ihn in den Semesterferien zu besuchen, war Jaana Ilander nicht mehr zurückgekommen, und sie hatte keine Fragen mehr nach seinen Plänen und seinem Befinden gestellt.
Dear Daniel, I hope you are fine …
Das musste seit jenem Telefonat genügen.
Er fragte sich, was ihn daran gehindert hatte, Jaana Ilander zu sagen, dass er das Ganze nicht so ernst genommen hatte wie sie. Er fragte sich, was ihn veranlasst hatte, im Freundeskreis Witze über seine Urlaubsbekanntschaft zu reißen und gleichzeitig jeden von Jaana Ilanders Briefen aufzubewahren.
Als der Pilot den Landeanflug ankündigte, begann der Mann neben ihm, wieder auf ihn einzureden, jetzt nicht redselig, sondern hektisch. Er fragte Daniel, was er in Finnland vorhabe, was er beruflich mache, was ihm an Finnland am besten gefalle. Er stolperte über die englische Aussprache und zitterte. Flugangst, dachte Daniel verblüfft. Der Mann hatte während des Fluges ganz entspannt gewirkt, aber jetzt, während des Landeanfluges, geriet er völlig außer sich.
Daniel dachte, dass der Mann Angst hatte, die beiden Mädchen, die er zum Lachen gebracht hatte, nie wiederzusehen.
Er sagte dem Mann, dass er als Texter in einer Werbeagentur arbeite und zum ersten Mal nach Finnland komme. Warum? Um Urlaub zu machen. Allein? Allein. Der Mann nickte. Daniel hatte den Eindruck, dass er gar nicht hörte, was er ihm erzählte, er wollte sich nur ablenken von seiner Angst.
Daniel dachte, dass er selten Angst hatte. Er hatte niemals Angst gehabt, Jaana Ilander nicht wiederzusehen.
Der alte Mann lächelte ihn an, als das Flugzeug ausrollte. Während sie durch die Schleuse auf das Flughafengebäude zugingen, erzählte er wieder von seinen Enkelkindern, jetzt ganz entspannt. Es sei schade, dass seine Frau deren Geburt nicht mehr erlebt habe.
Daniel Krohn nickte und dachte plötzlich, dass alles ganz anders war. Jaana Ilander war nicht ermordet worden. Jaana Ilander, die ihm jahrelang beharrlich freundliche Briefe geschickt hatte, hatte doch noch einen Weg gefunden, ihn wiederzusehen. Der Mann, der ihn angerufen hatte, der finnische Polizist, war kein Polizist, sondern ein Freund von Jaana Ilander, der ihn mit einer verrückten Geschichte nach Finnland locken sollte.
Jaana Ilander war nicht tot. Sie würde am Ausgang auf ihn warten. Sie würde sich irgendwo verstecken, hinter einer Säule oder einer Zeitung, und ihm mit beiden Händen die Augen
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