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Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Titel: Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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Briefumschläge.
    »Das sind ja Hunderte«, sagte Marion.
    Er schloss die Augen und glaubte, die klare Stimme des finnischen Polizisten zu hören. Ganz leise.
    »Ich weiß nicht, wie viele es sind«, sagte er. »In den ersten Monaten kam fast jeden Tag einer. Und irgendwann kam gar nichts mehr.«
    »Und du hast keinen dieser Briefe beantwortet?«
    Er hob den Blick und sah sie an. Er sah ihren verwirrten, vorwurfsvollen Gesichtsausdruck und dachte, dass die ganze Szene ein schlechter Witz war. Er lachte.
    »Was gibt’s da zu lachen?«, schrie Marion. »Wieso hast du nie von dieser Frau erzählt?!«
    Er lachte weiter, bis es wehtat, dann erhob er sich abrupt, baute sich vor Marion auf, holte tief Luft und schrie zurück: »Ich habe mit dieser Frau nicht das Geringste zu tun! Ich habe seit Jahren nicht an sie gedacht, ich habe mich erst vor fünf Minuten an die Existenz dieses Schuhkartons erinnert, und ich habe keine Lust, mich dafür zu rechtfertigen!«
    Er sah, wie Marion zurückwich.
    Er starrte auf die blau beschriebenen Blätter und auf die Umschläge, die er hastig zerrissen hatte, um schnell die Briefe in die Hände zu bekommen. Ja, er erinnerte sich jetzt. Er hatte die Briefe gern gelesen, er hatte sich über diese Briefe gefreut. Er hatte sie niemandem gezeigt, er hatte sie gelesen und in den Karton geworfen. Er hatte gedacht, dass Jaana Ilander ziemlich verrückt war und dass er sie irgendwann besuchen würde, dass er sie überraschen würde, irgendwann, wenn die Zeit dafür gekommen war.
    Er erinnerte sich, dass ihn die Briefe nach einigen Wochen dann doch genervt und leicht beunruhigt hatten. Nach einigen Monaten hatte er begonnen, diese Briefe zu hassen. Aber er hatte jeden aufbewahrt.
    Er erinnerte sich, dass er ab und zu mit dem Gedanken gespielt hatte zu antworten, und einmal hatte er vor einem weißen Papier gesessen und nach Worten gesucht.
    Er erinnerte sich, wie erleichtert er gewesen war, als die Briefe irgendwann ausblieben. Er erinnerte sich nicht genau, wann er Jaana Ilander und den Schuhkarton vergessen hatte, aber es musste eine ganze Weile her sein.
    »Und was passiert jetzt?«, fragte Marion. Sie stand an der Tür, auf Distanz.
    Sie sah ihm hart in die Augen. Er erwiderte ihren Blick, er zwang sich, ihm standzuhalten. Er sah Marion, mit der er noch vor ein paar Minuten gestritten hatte. Marion, die behauptet hatte, er würde sie betrügen, und er hatte es abgestritten, obwohl es stimmte, aber das war völlig uninteressant, jetzt.
    Er sah Marion an und sprach, ohne zu hören, was er sagte.
    »Ich werde nach Finnland fliegen, morgen.«

2
    Daniel Krohn erreichte das Land, von dem er geglaubt hatte, es liege am Ende der Welt, in rund zwei Stunden.
    Die Stewardess lächelte ihn unablässig an, zumindest hatte er den Eindruck, und der grauhaarige Mann neben ihm, ein Finne, hörte nicht auf, Bier zu trinken und redselig zu sein. Der Mann zwinkerte ihm wohlmeinend zu, als er seine Cola light verschüttete. Die Stewardess lächelte und brachte ein Tuch zum Aufwischen.
    Der Mann erzählte ihm in holprigem, aber verblüffend wortreichem Englisch von sich, von seinem Leben in Finnland, von Freunden in Deutschland, die er besucht hatte, von der Gnade des Älterwerdens. Von der Zeit, die er jetzt habe, von seinen Enkelkindern. Der Mann zeigte ihm ein Foto von ihnen. Zwei Mädchen vor einer weiten Schneefläche. Sie trugen knallrote dicke Mäntel. Der Fotograf, vermutlich der Mann selbst, hatte sie zum Lachen gebracht.
    Der Mann sah Daniel an und erwartete eine Reaktion. Daniel nickte so lange wortlos, bis der Mann eine Zeitung aus seiner Aktentasche nahm und zu lesen begann.
    Daniel Krohn wandte sich ab und sah aus dem Fenster.
    Grau.
    Er stellte sich vor, die Stewardess zu küssen.
    Marion hatte ihm nachgewunken, als er aus dem Fenster des Taxis zurückgesehen hatte. Der Taxifahrer hatte vor sich hingesummt, und er hatte gedacht, dass Marion ihm viel bedeutete.
    Vom Flughafen aus hatte er Tina angerufen, um ihr zu sagen, dass er für einige Zeit verreisen müsse. Als sie gefragt hatte, warum, hatte er zu seiner eigenen Überraschung die Wahrheit gesagt. Tina war überrascht gewesen und hatte auf die Schnelle nicht ganz begriffen, wovon er redete, aber sie hatte nicht weiter nachgefragt. Tina, die Theologiestudentin, der es gar nichts ausmachte, eine Affäre mit einem verheirateten Mann zu haben. Solange die Fronten geklärt waren.
    Tina war ohne Zweifel außerordentlich reizvoll.
    Tina und Marion

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