Eisnacht
eintrafen, und hatte Kaffee trinkend mit dem Polizisten am Empfang geschwatzt. Natürlich war er der Vorsitzende des Gemeinderates, aber seit wann gingen ihn polizeiliche Ermittlungen etwas an?
Harris war ihnen in seinem Streifenwagen vom Krankenhaus aus gefolgt. Er himmelte Wise und Begley an, hechelte ihnen wie ein Hündchen hinterher und stolperte in seinem Eifer, ihnen zu helfen, ständig über die eigenen Füße. Warum fuhr er nicht Streife, wie es seine Pflicht wäre? Und warum schickte er, Dutch, Harris nicht zu seiner Einheit und auf die Straßen zurück, wo er sich nützlicher machen konnte als hier drin, wo er nur dumm herumstand und jedem im Weg war?
Aus einem unerklärlichen Grund hatte Dutch nicht mehr die nötige Kraft, den jungen Polizisten zu maßregeln. Es erschien ihm viel zu mühsam, einen Befehl auszusprechen und ihn mit seiner Autorität zu untermauern. Er fühlte sich eigenartig losgelöst von dem, was um ihn herum vorging, und fragte sich nicht nur, wann ihm die Dinge derart entglitten waren, sondern vor allem, wann ihm das egal geworden war.
Seit das FBI in Gestalt des allmächtigen SAC Begley auf der Bildfläche erschienen war?
Oder seit Wes Hamer, sein sogenannter bester Freund, angefangen hatte, Begley in den Arsch zu kriechen?
Oder vielleicht seit Cal Hawkins ihm die Frage gestellt hatte, die er sich auch schon gestellt hatte: Ob deine Ex überhaupt gerettet werden will?
So machtlos hatte er sich seit seinem letzten verpfuschten Einsatz in Atlanta nicht mehr gefühlt. Damals war es der Gnadenstoß für ihn gewesen, ein Fehler, der zu schwerwiegend war, als dass er mit einer Disziplinarstrafe wie einer Suspendierung oder einer Abmahnung geahndet werden konnte. Es hatte nur noch die fristlose Entlassung gegeben. Wenn man mit der Dienstwaffe auf einen Neunjährigen zielt, weil man so besoffen ist, dass man seinen Baseballschläger für eine Waffe hält, dann muss einen das Police Department feuern. Geh nicht über Los. Zieh keine Pension ein. Du bist raus.
Heute fühlte er sich genauso gedemütigt. Von allen betrogen: seiner Frau, dem Wetter, seinem besten Freund, seinem Beruf, dem Schicksal, den Sternen oder Gott oder wer auch immer sein keinen feuchten Furz wertes Schicksal lenkte. Er brauchte was zu trinken.
Officer Harris führte die Gunns und die FBI-Agenten durch den kurzen Gang zu Dutchs Büro. Begley, der bei dieser Parade die Nachhut bildete, drehte sich um und wandte sich an ihn: »Kommen Sie auch, Chief Burton?«
»Ich komme sofort nach. Sobald ich meine Nachrichten durchgeschaut habe.«
Begley nickte, ging dann weiter durch die Tür, die Harris ihm aufhielt, und trat in Dutchs Büro.
Sobald sie außer Hörweite waren, sah Wes Dutch an und musterte die Schnittwunden in seinem Gesicht. »Wie geht es dir?«
Dutch ließ sich von dem Polizisten an der Telefonzentrale einen Stapel von rosa Zetteln aushändigen. »Ganz super, vielen Dank.«
»Tut das Gesicht weh?«
»Mörderisch.«
»Hatten sie nichts, was man drauftun kann?«
»Das geht auch so.«
»Ich könnte in den Drugstore gehen und was von Ritt holen.«
Dutch zuckte mit den Achseln. »Wenn du meinst.« Er wollte schon losgehen, als Wes die Hand um seinen Ellbogen hakte.
»Bist du sicher, dass alles okay ist, Dutch?«
Er schüttelte Wes' Hand ab. »Scheiße, nein, nichts ist okay!«
Er merkte, dass sein Untergebener ganz Ohr war, und senkte daraufhin die Stimme. »Falls es dir nicht aufgefallen ist, es war ein beschissener Morgen.«
Wes fuhr sich seufzend mit der Hand über die Stoppelhaare. »Blöde Frage. Tut mir leid. Hör zu, Lilly geht es gut, Dutch. Da bin ich ganz sicher.«
»Ja.« Ehrlich gesagt machte er sich vor allem Sorgen, dass es ihr zu gut gehen könnte.
»Weißt du was?«, schlug Wes vor. »Während du mit Millicents Eltern redest, laufe ich kurz rüber zum Drugstore. Ich hole eine Salbe für deine Schnittwunden und lasse von Ritt oder Marilee ein paar Sandwiches machen, die ich danach vorbeibringe.«
Dutch sah Wes an, konnte aber keine Arglist in seiner Miene entdecken. Er sah nur die ebenmäßigen Gesichtszüge seines alten Freundes und jene aufrichtige Fürsorge, der er trotz ihrer Freundschaft nicht mehr traute. »Das wäre eine echte Hilfe. Danke.«
»Nichts zu danken. Und jetzt los. Das da drin ist deine Show, vergiss das nicht.«
Wes' Abschiedsworte bohrten sich durch Dutchs steinerne Gleichgültigkeit. Es war tatsächlich seine Show, aber Gott. Alle, ihn eingeschlossen, schienen
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