Eisnacht
aufgeregt wir als Kinder jedes Mal waren, wenn Schnee vorhergesagt wurde, und wie wir uns immer gefragt haben, ob wir am nächsten Tag schulfrei bekommen würden oder nicht. Wahrscheinlich genießen Sie einen schulfreien Tag genauso wie Ihre Schüler.«
Marilee lächelte. »Falls wir schneefrei bekommen, werde ich wahrscheinlich Arbeiten korrigieren.«
Linda schniefte missbilligend. »Das nenne ich einen freien Tag verschwenden.«
Die Ladentür ging auf, und die Glocke bimmelte. Marilee drehte sich auf ihrem Hocker um, um zu sehen, wer hereingekommen war. Zwei etwa siebzehnjährige Mädchen traten kichernd in den Laden und schüttelten ihre nassen Haare aus. Sie waren in Marilees Grammatik und Literaturkurs.
»Ihr solltet was auf den Kopf setzen«, sagte sie zu ihnen.
»Hi, Miss Ritt«, erwiderten sie im Chor.
»Was macht ihr bei diesem Wetter draußen? Solltet ihr nicht zu Hause sein?«
»Wir wollten ein paar Videos ausleihen«, antwortete die eine.
»Nur für den Fall, dass morgen keine Schule ist, Sie wissen schon.«
»Hoffentlich sind noch ein paar neue da«, bemerkte die andere.
»Danke, dass ihr mich daran erinnert habt«, sagte Marilee. »Vielleicht nehme ich auch ein, zwei Filme mit.«
Die Mädchen sahen sie fassungslos an, als wären sie noch nie auf den Gedanken gekommen, dass Miss Marilee Ritt tatsächlich einen Film ansehen könnte. Oder dass sie irgendwas tun könnte außer Tests ausarbeiten, Aufsätze benoten und während der Pausen die Gänge im Schulhaus beaufsichtigen, um allzu brutales Gerangel zu unterbinden. Wahrscheinlich konnten sie sich nicht vorstellen, dass es für ihre Lehrerin ein Leben außerhalb der Korridore der Cleary Highschool gab.
Bis vor Kurzem hätten sie damit auch Recht gehabt.
Sie merkte, wie ihre Wangen warm wurden, sobald sie an ihren neuen Zeitvertreib dachte, und wechselte schnell das Thema. »Ihr solltet heimfahren, bevor die Straßen vereisen«, warnte sie die Schülerinnen.
»Machen wir«, antwortete die eine. »Ich muss sowieso zu Hause sein, bevor es dunkel wird. Wegen Millicent. Meine Leute sind voll panisch.«
»Meine auch«, bestätigte die andere. »Total. Sie wollen rund um die Uhr wissen, wo ich bin.« Sie verdrehte die Augen. »Als würde ich diesen Irren so nahe an mich ranlassen, dass er mich packen und wegschleifen kann.«
»Ich kann mir vorstellen, dass sie sich Sorgen machen«, sagte Marilee. »Das sollten sie auch tun.«
»Mein Daddy hat mir eine Pistole gegeben, die ich im Auto liegen habe«, sagte das andere Mädchen. »Er hat gesagt, ich soll nicht zögern, jeden zu erschießen, der sich an mich ranmachen will.«
Marilee murmelte: »Es ist eine beängstigende Situation.« Sie sah ihnen an, dass sie es kaum erwarten konnten, ans Filmregal zu kommen, und wünschte ihnen noch einen schönen schneefreien Tag, falls es tatsächlich einen geben sollte, bevor sie sich wieder der Theke zudrehte, auf der Linda eben ihren Kakao abstellte.
»Vorsicht, Schatz, er ist heiß.« Linda sah den Mädchen nach. »Die Leute sind völlig übergeschnappt.«
»Hmm.« Marilee nippte vorsichtig an der heißen Schokolade. »Ich weiß nicht, was mich mehr beunruhigt. Die fünf vermissten Frauen oder die Tatsache, dass inzwischen die Väter ihre halbwüchsigen Töchter mit Pistolen bewaffnen.«
Ganz Cleary lebte in Angst wegen der verschwundenen Frauen. Die Menschen verriegelten Türen, die bis dahin nur zugezogen worden waren. Frauen jeden Alters wurden gewarnt, sich in Acht zu nehmen, wenn sie allein unterwegs waren, und dunkle, abgeschiedene Plätze zu meiden. Sie bekamen den Rat, niemandem zu trauen, den sie nicht gut kannten. Seit Millicent verschwunden war, hielt man es sogar für angebracht, dass die Ehemänner und Lebensgefährten ihre Partnerinnen abends von der Arbeit abholten und sie nach Hause begleiteten.
»Man kann den Leuten kaum einen Vorwurf machen.« Linda senkte die Stimme. »Merken Sie sich, was ich sage, Marilee. Die kleine Gunn ist so gut wie tot.«
Es war eine pessimistische Prophezeiung, aber Marilee konnte ihr kaum widersprechen. »Wann fahren Sie nach Hause, Linda?«
»Sobald Ihr Sklaventreiber von Bruder sagt, dass ich heim darf.«
»Vielleicht kann ich ihn überreden, Sie früher gehen zu lassen.«
»Kaum. Wir haben den ganzen Nachmittag über ein Bombengeschäft gemacht. Die Leute glauben, dass es Tage dauern wird, bis sie wieder aus dem Haus kommen.«
Seit Marilee denken konnte, hatte es an der Ecke Main Street und Hemlock
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