Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
sich.
Ganz kurz kommt ihr der Gedanke, bei Kim vorbeizufahren. Sie weiß noch nicht, welche Lüge und Ausrede sie Kim anbieten kann, aber sie fühlt sich gerade großherzig genug, um auf sie zuzugehen. Eine SMS durchkreuzt ihren Plan.
In einer halben Stunde auf dem Spielplatz im Park. C.
Zoe stört sich nicht an dem Befehlston. Sie merkt es gar nicht und bremst, um die Richtung zu ändern. Vielleicht ist es sogar besser, Kim noch etwas Zeit zu geben, um sich zu beruhigen, redet sie sich ein. Carl liegt auf einer überdimensionalen Hängematte und zieht böse Blicke einiger Mütter auf sich. Immer wieder müssen sie ihre brüllenden Kleinkinder wegziehen, die auch auf der Matte schaukeln wollen.
Zoe lehnt ihr Rad gegen einen Baum. »Hi«, grüßt sie knapp.
»Setz dich doch«, fordert Carl sie auf.
Eigentlich ist ihr das zu nah, aber sie will auch nicht kneifen. Es ist gar nicht so einfach, zu zweit zu schaukeln, ohne sich zu berühren. Zoe schafft es unter Anspannung aller Muskeln.
»Und bist du schon dicke mit der Alt?«
»Ich arbeite dran. Willst du mir nicht ein bisschen was von deinem tollen Plan verraten?«
»Nein. Wäre nur gut, wenn sie dir wirklich vertraut.«
»Erwartest du, dass sie mir irgendwann gesteht, lesbisch oder gefangen im falschen Körper zu sein? Willst du sie dann damit erpressen, oder was?«
Carl guckt sie überrascht an. »Du bist erstaunlich nahe dran. Aber mach dir einfach keine Gedanken. Dafür bin ich ja da. Du kannst aber beruhigt sein. Bis jetzt läuft alles nach Plan.«
Stumm schaukeln sie weiter. Beruhigt fühlt Zoe sich nicht. Irgendwann nimmt eine der erbosten Mütter ihren Mut zusammen und nähert sich den Jugendlichen: »Das ist hier ein Spielplatz. Für Kinder. Vielleicht könntet ihr woanders kuscheln«, giftet sie.
Carl schaut sie ganz ruhig an, holt dann Luft. »Was wir hier machen, ist Bestandteil einer Therapie. Wir sollen das innere Kind in uns finden, es befreien, vielleicht sogar die Hand nach ihm ausstrecken. Das versuchen wir gerade. Ich glaube nicht, dass Sie wissen wollen, warum wir eigentlich in stationärer psychiatrischer Behandlung sind und nur für dieses Experiment kurz raus durften. Oder möchten Sie es doch wissen?«
Die Frau ist krebsrot geworden, setzt sich wieder zu ihren Freundinnen.
Gibt es mehr als unendlich?
Z oe lässt sich Zeit mit dem Heimweg. Sie ahnt, dass ihre Mutter nicht locker lassen wird. Sie wieder nerven wird mit Fragen, Vorhaltungen. Sie wird bohren, bis sie auf diese metallene Schicht stößt. Die Frage ist, ob sie dann weiterbohrt und wie dick die Schicht ist. Als Zoe die Tür aufschließt, hört sie schon die aufgebrachte Stimme Sonja Kesslers: »Den Fall kann ich unmöglich zusätzlich übernehmen. Ich arbeite jetzt schon am Limit.« Sie hebt kurz abwesend die Hand zum Gruß, presst sich weiter das Telefon ans Ohr. »Dann muss eben mehr Personal her. Wann soll ich diese Überstunden jemals abbauen?«, hört Zoe sie sagen.
Zoe geht ins Wohnzimmer, wo Franzi in ihrem Spezialstuhl vorm Fernseher liegt. Geparkt ist. Zoe holt sich einen Stuhl, setzt sich neben sie. Doch sie guckt nicht auf den Bildschirm. Sie guckt nur auf Franziskas Gesicht, wo sich Stimmungen abwechseln. Wo die Augen größer werden, die Mundwinkel auf dem Weg nach oben erstarren, ein Glucksen sabbernd aus dem schiefen Mund kommt. Franzi lacht nicht an den Stellen, die eigentlich witzig sein sollen. Sie sieht ihre eigenen Bilder, malt sich ihre eigene Geschichte aus. Die scheint ihr zu gefallen.
Zoe hört eine Tür mit viel Schwung zufallen. Das war nicht der Wind. Das war Wut. Zoe weiß es. Sonja Kessler sitzt jetzt auf dem Trimm-dich-Rad und versucht ihren Zorn in Kilometer umzuwandeln. Zoe guckt weiter Franzi an und bemerkt es. An dem angestrengten Gesichtsausdruck. Dann riecht sie es. Ihre Schwester hat in die Windel gekackt. Seufzend erhebt sie sich, geht in Franziskas Zimmer, um das Nötige zu holen. Sie lässt die Lehne des Stuhls zurückgleiten, zieht der Schwester die Hose aus und sieht es. Franziska hat Durchfall. Die Windel hat nicht gehalten. An den Beinen, am Rücken, überall dünnflüssige Scheiße. Es hat keinen Sinn. Mit den Feuchttüchern wird es nicht gehen. Franzi muss in die Wanne, abgeduscht werden. Das hat Zoe noch nie alleine gemacht. Aber sie will jetzt nicht ihrer Mutter Bescheid sagen. Sie will sie nicht stören, sie will sie nicht sehen, sie will einfach nicht um Hilfe bitten.
Sie redet sich ein, dass sie es alleine schafft.
Weitere Kostenlose Bücher