Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
waren feine Klingen. Unscheinbar und teuflisch scharf. Damit war Zoe sich immer wieder über die Innenseite der Oberschenkel gefahren. Weil es mehr kitzelte, weil es unsichtbarer war, weil es mehr quälte. Irgendwann hatte sie fest zugedrückt. Kurz Entspannung gefunden. Ein paar Wochen hatte es gedauert. Narbe neben Narbe entstand und plötzlich die Erkenntnis: Es wäre nie genug. Sie fand sich albern. Als könnte sie so die Schuld ausbluten. Als könnte sie sich so auf eine Stufe mit Franziska stellen. Die Narben waren mittlerweile nicht mehr zu sehen. Sie denkt kaum noch dran.
Sonja Kessler öffnet nach einem vorsichtigen Klopfen die Tür. »Kommst du zum Essen runter?«, fragt sie Zoes Rücken.
Die dreht sich noch nicht mal um.
»Mir ist irgendwie nicht nach essen. Ich hatte in der Stadt einen Fischburger, seitdem ist mir irgendwie übel«, lügt sie und starrt weiter auf ein aufgeschlagenes Buch.
»Wir würden aber gerne mit dir reden.«
Zoe fährt herum, taxiert ihre Mutter kühl. »Mama, es gibt da nichts mehr zu reden. Ich bin jahrelang mit dem Gefühl klargekommen, dass ich der Grund für Franzis Behinderung bin. Da werde ich wohl auch das Gefühl ertragen, es nicht zu sein, oder?«
»Aber es muss doch schrecklich für dich gewesen sein.«
»Das war es.«
»Wieso hast du nie was gesagt?«, fragt Sonja leise.
Zoe lacht. Es klingt fast richtig lustig.
»Was hätte ich denn sagen sollen? Übrigens, sorry, dass euer zweites Kind bescheuert ist. Das habe ich nicht gewollt . So etwas in der Art?«
Sonja Kessler hat die Tür schon fast wieder geschlossen, als Zoe noch etwas leise hinterherschiebt. »Hättet ihr nicht mal was sagen können? Hättet ihr mich nicht befreien können ehe der Zement in mir hart wurde?«
»Wir waren so mit Franzi beschäftigt. Es hat uns blind gemacht. Du wirktest immer so stark, so lebenslustig. Wir haben uns eingeredet, du brauchst uns nicht.«
»Mama, ich muss lernen.«
Sonja Kessler geht raus und Zoe starrt noch auf die Stelle, wo gerade noch ihre Mutter stand.
»Stimmt. Ich brauche euch nicht. Ich brauche niemanden. Nicht mehr.«
»Was hast du mit der Kamera da im Gebüsch gemacht? Einen Baum gefällt oder was? Das Objektiv ist total zerkratzt, ein Ring ist sogar gebrochen.«
Carl hat noch nie so mit Zoe gesprochen. Sie starrt ihn an. Wenn er sich jetzt auch noch von ihr abwendet, muss sie kotzen.
»Einmal ist sie kurz gegen so einen Baumstamm gestoßen. Weißt du wie schweineschwer die wird, wenn man die ewig vorm Gesicht hat? Mir haben schon die Arme gezittert. Du hast aber auch ewig gebraucht. Tut mir leid, wenn da was kaputt ist«, räumt Zoe ein.
»Die Reparatur zahlst du auf jeden Fall«, knurrt Carl.
Zoe nickt nur. Wenn es mehr nicht ist.
»Ich habe übrigens noch ein Geschenk für dich. Bring ich dir heute Nachmittag vorbei. Du wirst staunen.«
Damit dreht Carl sich weg. Zoe überlegt. Heute Nachmittag ist Franziska zu Hause. Vielleicht kann sie ihre kleine Schwester zum Schlafen bringen, ehe Carl kommt. Dann sieht er sie nicht. Er hat nicht gesagt, wann er kommt. Sie will ihn nicht fragen. Das wäre uncool, als könnte sie es nicht erwarten. Und Carl sagen, dass sie keine Zeit hat? Das schafft sie nicht. Sie will nicht den letzten Besucher in ihrem inneren Gefängnis vergraulen.
Ein Fisch an Land
Z uhause wieder die Tour durch fast alle Räume. Alles, was auch nur annähernd nach Behinderung riecht, lässt sie nebenbei verschwinden. Die Massagebälle, die Bücher, die Schnabeltassen. Mit einer Bürste rubbelt sie sogar alle Spuren der Rollstuhlreifen vom Boden. Im letzten Moment denkt sie auch daran, die Familienfotos in eine Schublade zu verfrachten. Sie hofft nur, dass ihrer Mutter das nicht zu früh auffällt. Wenn doch, hat sie sich schon einen Grund ausgedacht. Sie wird behaupten, dass sie die Bilder immer nur mit Schuldgefühlen betrachten konnte und dass sie sie deswegen erstmal nicht sehen möchte.
Direkt nach dem Essen beginnt Zoe mit dem ultimativen Bespaßungsprogramm für Franzi. Sie legt laut Musik auf, tanzt hektisch hin und her. Franzi beginnt mit dem Kopf zu wackeln, ihre Augen flackern. Zoe ignoriert das, hofft dass Franziska sich fängt. Tut sie aber nicht. Sie beginnt zu wimmern. Zoe wechselt die CD, hüpft auf und ab. Franzi hat draußen irgendwas entdeckt, guckt gar nicht hin.
»He, Süße, hier bin«, brüllt Zoe. Franzi erschrickt, fängt an zu weinen.
Sofort tröstet sie kleine Schwester, drückt ihr ein Kuscheltier in die
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