Eistochter
Hände los.
Verblüfft und erschöpft lasse ich mich zu Boden sinken. Die Worte tanzen durch meinen Verstand. Ich liebe Beck. Wie kommt es, dass ich das nicht wusste? Wie konnte mir nicht auffallen, wie viel er mir mittlerweile bedeutet? Er ist nicht mehr bloß mein Partner und mein bester Freund, sondern der Junge, den ich liebe.
Henry reißt mich aus meinen Grübeleien. »Solange du lieben kannst, wirst du nie böse sein, da bin ich mir ganz sicher.«
Unter dem Hemd läuft mir der Schweiß den Rücken hinunter. Ich bin völlig erledigt. Ich habe meinem Lehrer-Bindestrich-Onkel gestanden, dass ich Beck liebe. Ich werde den Jungen töten, den ich liebe. Ich habe in der Angelegenheit kein Mitspracherecht, und es gibt keinen Ausweg.
Henry berührt mich an der Schulter. »Ganz gleich, was du denkst, du bist nicht böse. Du bist Dunkel. Das ist ein Unterschied.«
27
Ich gebe nicht viel auf Henrys Worte. Ich kehre zum Haus zurück und gehe nach oben in mein Zimmer. Den Jungen zu töten, den ich liebe, kommt mir absolut böse vor, selbst wenn es nicht das ist, was ich will.
Erregte Stimmen dringen aus der Bibliothek zu mir herauf. Statt nachzuforschen, gehe ich den bildergesäumten Flur entlang zu meinem Zimmer und lasse mir noch einmal durch den Kopf gehen, was Henry gesagt hat, bevor ich gegangen bin: »Sei nicht zu hart mit Beck. Margo hat einen Zungenlähmungszauber gegen ihn gewirkt. Er kann dir nicht so viel erzählen, wie er will.«
Noch etwas, das ich nicht völlig verstehe, aber es klingt ähnlich wie meine Ummantelung. Warum sollte seine Mutter ihm das antun?
Ich bleibe vor einer Gruppe von Fotos stehen. Die Hexen wirken alle so glücklich und unbesorgt – überhaupt nicht wie Leute, die von Dunkelhexen gejagt werden. Ich frage mich, wie viele von ihnen verflucht waren, auf Leben und Tod gegen meine Familie zu kämpfen. Wie viele sind von meiner Mutter, ihrer Mutter und all meinen Verwandten vor mir getötet worden? Ich betrachte ein Foto, auf dem mehrere Channing-Jungen zu sehen sind. Ist einer von ihnen meiner bösen Familie zum Opfer gefallen?
Furcht heftet sich an mich wie ein ungewollter Begleiter, während ich eilig dusche und in mein Zimmer zurücklaufe.
Ich sollte nicht in Becks Nähe sein, das hat Henry mir schmerzlich deutlich gemacht, aber mein Herz hört nicht darauf. Es sprudelt und wirbelt und kann es gar nicht abwarten, den Jungen zu sehen, den ich eines Tages töten werde.
Aber noch ist dieser Tag nicht gekommen, und ich bin nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben.
Aus einem Koffer suche ich mir ein dunkelblaues Sommerkleid mit winzigen lilafarbenen Blumen heraus, bevor ich ein Paar flache Riemchensandalen anziehe.
Mein Haar fällt in natürlichen Wellen herab. Ich trage rasch Wimperntusche auf, entschließe mich aber, den Rest meines Gesichts ungeschminkt zu lassen. Ich mustere mich prüfend im Spiegel und renne dann geradewegs zum Ostrasen.
Ein erbärmlicher Tag, denke ich, als ich die Grasfläche überquere. Aber das heißt ja nicht, dass er auch erbärmlich enden muss. Und wenn das, was Henry sagt, zutrifft und ich Selbstbeherrschung lernen kann, dann besteht die größte Bedrohung nicht darin, dass ich Beck das Licht aussaugen könnte, sondern darin, dass ich Magie gegen ihn wirke. Ich plane, so viel Selbstbeherrschung wie nur irgend möglich zu üben, wenn der Automatismus und unsere Bindung erst aufgelöst sind.
Eloise winkt mir von einem langen Tisch zu und bedeutet mir, mich zu ihr zu setzen. Ringsum sitzen zahlreiche junge Hexen, die ich nicht näher kenne. Einige von ihnen kommen mir bekannt vor – ich habe sie Beck nachlaufen sehen –, aber die meisten sind Fremde.
Ich gehe zögernd zu ihr hinüber, weil ich bezweifle, dass sie erlauben werden, dass ich mich zu ihnen setze. Bis auf Bethina, Henry und Beck ist Eloise die Einzige, die nicht zurückzuckt, wenn ich mich ihr nähere.
»Du siehst hübsch aus, Lark.« Eloises Augen mustern mich, und sie streckt mir den erhobenen Daumen hin. »Das wird Beck gefallen.«
Der schlaksige Typ neben Eloise lacht leise. »Sie könnte Kleider wie im Langen Winter tragen, und er würde sie immer noch scharf finden.«
Hitze steigt mir in die Wangen. Das hat er doch wohl nicht wirklich gesagt!
»Das ist gut! So bekommst du ein bisschen Farbe ins Gesicht, bevor er auftaucht – dann siehst du gesünder aus«, neckt mich Eloise. Es wäre so typisch für Kyra, etwas Derartiges zu sagen, dass ich einen Moment lang fast vergesse, wer mit
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