Eistochter
viele Gefahren.« Sie winkt verächtlich ab. »Aber du musst dir keine Sorgen machen, und meine Leibwache wird uns nicht stören. Es sei denn, du würdest Annalise gern sehen? Oder vielleicht Kyra? Sie behalten dich schließlich im Auge.« Meine Mutter sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an und wartet auf eine Antwort.
Kyra ist hier? Und sie beobachtet mich zusammen mit Annalise? Von der anderen Seite der Kuppel aus? Das hier ist etwas, das nur den engsten Kreis etwas angeht – kein Wunder, dass Annalise und Callum auf die Suche nach mir geschickt worden sind. Aber Kyra?
Ich reiße den Kopf hoch, als ich das vertraute Rascheln einer Hexe höre, die Gestalt annimmt.
»Lark!« Kyras dünner Körper prallt gegen meinen und zieht mich in eine feste Umarmung.
Verblüfft stehe ich still da, während mein Verstand versucht, die surreale Szene um mich herum zu verstehen. Mutter, Henry, Kyra – die Kälte. Nichts davon wirkt echt, aber Kyra drückt mich so kräftig an sich, dass ich kaum Luft bekomme, also muss sie wirklich hier sein.
»Kyra?«, keuche ich. »Was machst du hier?«
Sie presst mir ein letztes Mal die Luft aus der Lunge, bevor sie mich loslässt und sich in ein für sie typisches, ebenso blitzschnelles wie einseitiges Gespräch stürzt: »Ich arbeite! Kommst du mit uns nach Hause? Es ist so langweilig ohne dich – nichts außer trainieren, trainieren, trainieren.« Sie schmollt, wie ich es sie schon millionenfach habe tun sehen, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte. »Und ich bin so traurig, dass ich außer Maz und Ryker keine nette Gesellschaft habe – die älteren Leute sind nicht so lustig, weißt du? Die Zeit mit dir hat Maz wirklich gefallen. Er hat gesagt, dass er dich jetzt viel lieber mag als früher!« Sie wirft die Locken zurück und strahlt mich an. »Außerdem vermisse ich dich so sehr!«
Der Gedanke, nach Hause zu kommen, zu Leuten, die mich mögen, spricht mein Sicherheitsbedürfnis an. Es wäre so einfach – Mutter und Kyra könnten mich unterrichten, und ich wäre von Menschen umgeben, die mich nicht fürchten. Ich wäre nicht ummantelt. Ich könnte lernen.
Aber ich würde Beck nicht haben. Und sie würden wollen, dass ich ihn töte.
»Ich weiß nicht …« Es ist eine ehrliche Antwort.
Kyra reißt ungläubig die Augen auf. »Du würdest ihn uns vorziehen?« Sie stapft zu meiner Mutter hinüber. »Kann sie das tun?«
Zu meiner Überraschung sagt meine Mutter nichts.
Kyra berührt sie am Arm und schreit: »Aber das darf sie nicht! Sie kann ihn uns nicht vorziehen! Es ist nicht richtig.«
Mutter lächelt sie an, hebt Kyras Hand hoch und lässt sie fallen. Kyras Brustkorb bebt vor Wut.
Zu sehen, wie unglücklich Kyra ist, tut mir körperlich weh. Die längste Woche meines Lebens (abgesehen von meinem derzeitigen Aufenthalt in Summer Hill) war die, in der Kyra sich geweigert hat, mit mir zu sprechen, weil ich ihr die Geburtstagsüberraschung für Maz verdorben hatte. Aber jetzt fühlen sich ihr Zorn und ihre Verwirrung noch hundertmal schlimmer an. Sie strahlen von ihr aus, nagen an meiner erstaunlichen Ruhe und drohen meine unkontrollierbaren Kräfte wachzurufen.
Aber Kyras Gefühlsausbrüche zu entschärfen ist schon seit meiner Kindheit meine Spezialität, und ich zögere nicht lange, es auch jetzt zu tun. Am liebsten spricht sie über sich selbst – und so wechsle ich das Thema zu einem, von dem ich weiß, dass es ihr besser gefallen wird. »Wofür trainierst du denn?«
Verstehen huscht über ihr Gesicht. Sie weiß, was ich tue, wehrt sich aber nicht dagegen. »Innere Leibwache«, flüstert sie hinter vorgehaltener Hand. Ihr breites Grinsen droht ihr Gesicht zu verschlucken – das ist die Arbeit, von der sie immer geträumt hat. Kyra hat kein Interesse an Politik, Landwirtschaft oder überhaupt einem der Fächer, die wir in der Schule hatten – sie wollte schon immer im Sicherheitsdienst arbeiten oder Spionin werden, was ich ehrlich gesagt komisch finde. Aber nun steht sie hier und bewacht anscheinend meine Mutter.
Korrektur: Sie bewacht mich .
»Du arbeitest also mit Annalise zusammen?« Ich spucke ihren Namen aus, und es ist mir gleichgültig, ob jemand bemerkt, wie sehr ich sie verabscheue.
Meine Mutter beugt sich näher zu mir. »Gibt es einen Grund dafür, dass du deine Schwägerin nicht magst?«
Die Worte sprudeln ungehemmt aus mir hervor: »Sie war gemein zu mir. Und zu Beck. Und sie hat mich in eine sonderbare, schwere Luft eingewickelt.« Kyra kichert,
Weitere Kostenlose Bücher