Eistochter
küsst mir noch einmal die Hände, bevor sie sie loslässt. Mit dem Daumen tupft sie sich die Augenwinkel. »Beck wird in deiner Nähe nie sicher sein, so wie dein Vater in meiner Nähe nie sicher war.« Sie sieht mir tief in die Augen, und ich lasse mich von ihrer Gegenwart verschlingen. »Ich konnte deinen Vater nicht beschützen. Ich dachte, ich könnte es, aber ich konnte es nicht. Unsere Magie war nicht dazu bestimmt, vereint zu sein. Auch deine und Becks ist das nicht.« Sie küsst mich auf die Wange. »Geh jetzt. Genieße die Zeit, die dir mit ihm noch bleibt. Liebe ihn für den Augenblick. Mehr kann ich nicht tun.«
30
Ich bin zerschlagen und kann mich nur mühsam aufrappeln, als Mrs. Channing den Kopf in mein Zimmer steckt.
»Es wird Zeit aufzuwachen.«
Ich stöhne und spiele mit dem Gedanken, eine Krankheit vorzutäuschen, um im Bett bleiben zu können, bis mir wieder einfällt, dass das einen Besuch von Eamon nach sich ziehen würde.
Aufzustehen ist da noch die angenehmere Alternative, und so schleppe ich mich aus meinem Rückzugsort hervor.
Was für einen seltsamen Traum ich in der Nacht hatte! Irgendetwas über meine Mutter, Henry und mich in einem Bauernhaus. Ich glaube, Kyra ist auch vorgekommen – wie üblich ist sie herumgestapft und hat über alles Mögliche geredet.
Als ich vor dem Spiegel stehe, schließe ich die Augen in dem Versuch, mir den Traum ins Gedächtnis zu rufen. Er war nicht erschreckend, sondern überwiegend schön. Mutter hat mich so stolz angesehen. Und Kyra zu treffen war toll – obwohl sie wütend auf mich geworden ist.
Ich hebe die Bürste und beginne, meine Haare zu einem Pferdeschwanz zurückzubinden. Als ich mit beiden Händen nach oben greife, um ihn festzuziehen, öffne ich die Augen, um meine Fortschritte zu überprüfen.
Mein blaues Armband liegt um meinen Unterarm. Bild um Bild überflutet meinen Verstand: Henry und meine Mutter beim Weintrinken, ihr Mantel um meine Schultern, die Art, wie sie meine Hände in ihren gehalten hat. Ihre seidige Stimme, die mich ermuntert hat, Zeit mit Beck zu verbringen und ihn zu lieben. Entsetzt reiße ich mir das Armband ab und stopfe es in die Schublade.
Ich muss Henry suchen. Er hat mich überlistet. Er muss mir alles erklären.
Adrenalin schießt durch meinen Körper, als ich die Treppe hinunter und nach draußen auf den Rasen sprinte. Ich suche die riesige Fläche ab und renne, als ich Henry nicht sehe, am Rande der Zeltstadt entlang, um in die Zeltgassen zu spähen.
»Lark, was tust du da? Du trägst noch deine Nachtwäsche!« Bethina verstellt mir den Weg.
Ich bleibe vor ihr stehen, hüpfe aber auf und ab, da ich erpicht darauf bin, in Bewegung zu bleiben. Mein Blick schweift über den Rasen. »Hast du Henry gesehen?«
Bethina stemmt die Hände in die Hüften. »Er ist unterwegs, um etwas zu erledigen. Brauchst du etwas?«
»Wann kommt er zurück?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß sehr wohl, dass du dich anständig anziehen musst, bevor du in aller Öffentlichkeit herumläufst.«
Bevor ich protestieren kann, packt sie mich am Arm und führt mich zurück zum Haus. Wir kommen an Beck vorbei, der mit den Hexen frühstückt, in deren Begleitung er ständig ist. Als er mich bemerkt, steht er von seinem Platz auf, aber Bethina sieht ihn kopfschüttelnd an. Mit bemitleidenswerter Miene lässt er sich wieder auf seinen Stuhl sinken.
Ich versuche, mich von Bethina loszureißen.
»Was tust du?«, fragt sie und dreht mich herum, fort von Beck. »Du musst dich von diesem Jungen fernhalten, schon vergessen?«
Ich kneife die Augen zu und schreie im Kopf Beck! , aber ich erhalte keine Antwort. Warum konnte er mich früher hören, jetzt aber nicht mehr?
Ein Kribbeln läuft über meine Arme, und ich schlage die Augen auf. Ein paar Tische weiter rechts sitzt Eamon und beobachtet mich. Er reißt mit den Zähnen ein Stück Brot ab. Der Vorgang wirkt vollkommen animalisch. Meine Atmung beschleunigt sich, als wir einander in die Augen sehen, und ich weigere mich, als Erste den Blick abzuwenden. Ich werde den ganzen Tag hier stehen bleiben, wenn es sein muss.
Eamon starrt mich weiter böse an und beißt noch ein Stück Brot ab. Ich gestatte es meinem Körper, sich mit Hass zu füllen. Es würde Spaß machen, ihm wehzutun – nur eine Sekunde lang. Nichts allzu Ernstes. Vielleicht ein elektrischer Schlag oder so.
Als ich mit dem Gedanken spiele, das zu wiederholen, was ich mit Quinn gemacht habe – dem imaginären Mädchen,
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