Eistochter
Empfindsamen begegnet sind. Kein Wunder, dass der Alarm nicht losgegangen ist – die Schulbarrikade ist nutzlos, und wenn Bethina mir die Wahrheit gesagt hat, wussten einige Mitglieder des Staats darüber Bescheid. Es war alles Augenwischerei.
»Du bist dran.«
Ich habe keine Ahnung, was sie gemacht hat. Ich schließe die Augen und verdränge alle Gedanken außer dem an den Baum aus meinem Verstand. Ich kneife die Augen immer fester zu und male mir aus, neben dem Baum zu stehen. Nichts.
Wieder dieses Rascheln. Ich öffne die Augen und stelle fest, dass eine Gruppe aus etwa zwei Dutzend Hexen zu uns gestoßen ist. Sie stehen sich in zwei Reihen rechts und links von Dasha und mir gegenüber.
Unsicher, was ich tun soll, hebe ich die Hand und sage im unbedrohlichsten Tonfall, der mir zu Gebote steht: »Hallo.«
»Mörderin«, zischt einer von ihnen, ein Junge von etwa dreizehn Jahren.
Ich erstarre mitten im Schritt und konzentriere mich auf ihn. »Sprichst du mit mir?«
Verhaltenes Gekicher. Der Junge starrt an mir vorbei und will mir nicht in die Augen sehen. »Du hast meine Mutter getötet. An deiner vornehmen Schule.«
Mir stockt der Atem, und meine Knie werden weich. Ich habe die Mutter dieses Jungen getötet, auch wenn es ein Unfall war und in Selbstverteidigung geschehen ist. »Es tut mir …«
»… leid?«, fragt er ungläubig. »Dir doch nicht. Du würdest uns alle töten, wenn du Gelegenheit dazu hättest.«
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Du verstehst das nicht. Sie hat mich bedroht.«
Der Junge blickt auf. Unvergossene Tränen funkeln in seinen Augen. Eine ältere Frau legt ihm den Arm um die Schultern, und er birgt den Kopf in ihrer Achsel. Ein langgezogenes, leises Schluchzen erfüllt die Luft.
Ich habe seine Mutter getötet.
Ich will mehr denn je verschwinden, und Bewegungsmagie kommt mir im Moment wie meine größte Chance vor. Ich schließe die Augen und konzentriere mich darauf, mich so weit wie möglich von diesem Jungen – und den anderen Hexen – zu entfernen. Ich denke nur an den Baum und tue genau das, was Dasha mir gesagt hat. Aber nichts. Ich stehe immer noch am selben Fleck.
Dasha erscheint neben mir. »Versuchst du es überhaupt? Oder ist das alles für dich nur ein großes Spiel? Bewegung sollte dir angesichts deiner Begabungen leichtfallen.«
Jemand in der Menge versucht, sein Lachen mit einem Husten zu überdecken. Toll. Ich versage nicht nur auf der ganzen Linie, ich habe dabei auch noch ein Publikum.
»Natürlich versuche ich es! Ich habe nur keine Ahnung, wie Sie es bewerkstelligt haben. Es ist ja nicht so, dass Sie es mir überhaupt erklärt hätten.« Wut kocht in mir hoch.
»Versuch es noch einmal. Du darfst nicht scheitern.« Sie tritt einen Schritt von mir zurück. »Konzentrier deinen Verstand, Lark. Du kannst es schaffen.«
Die Wut sickert in mein Gehirn ein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich zornig auf Dasha bin, weil sie mir vorwirft, mich gar nicht zu bemühen, oder mir selbst wegen meiner Unfähigkeit böse bin. Ich hole tief Luft, verscheuche alle feindseligen Gedanken und konzentriere mich auf den Baum.
Die Luft streicht über meine Haut. Eine kleine Bewegung und dann ein entsetzlicher, brennender Schmerz, als ich gegen eine unsichtbare Barriere pralle. Ich breche gute drei Meter vom Baum entfernt auf dem Boden zusammen. Blut verstopft mir die Kehle und strömt mir übers Gesicht.
»Oje!« Dasha beugt sich über mich, berührt mich aber nicht. »Was ist passiert?«
Ich versuche zu antworten, aber das Blut läuft mir die Kehle hinunter, und ich würge. Unbekannte Gesichter beugen sich über mich, um einen besseren Blick auf meine Verletzungen zu erhaschen.
Ich höre jemanden sagen: »Sie hat es nicht besser verdient.«
Niemand bietet an, mir zu helfen. Und warum auch? Sie hassen mich.
Und dann sagt die samtige Stimme eines Mannes: »Vielleicht kann ich helfen?«
»Oh, den Sternen sei Dank! Eamon.« Dashas Tonfall schwankt zwischen Furcht und Besorgnis. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Sie schien ganz gut zurechtzukommen, und dann das!« Sie sagt »das« so, als hätte ich mir vorsätzlich körperlichen Schaden zugefügt.
»Wir sind einander noch nicht richtig vorgestellt worden«, sagt er zu mir. »Eamon Winchell, Heiler.« Er zupft an seiner roten Tunika. »Mitglied der Nördlichen Gesellschaft.«
Ein Heiler. Im Augenblick ist es mir ziemlich gleichgültig, wer er ist, solange er nur den pochenden Schmerz zum Erliegen bringen kann.
Eamon
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