Eiszeit
später erklärte ihm der zuständige Gerichtsvollzieher, mit dem ihn ein herzliches Verhältnis verband, dass er seine Wohnung räumen müsse. In jener Nacht schlief Waldemar zum ersten Mal unter freiem Himmel.
*
Er drückte den Stummel der Zigarette aus, zog die Nase hoch und kroch ein wenig tiefer in den Schlafsack. Irgendwo knackte ein Ast, aber er wusste, dass er sicher war. Hier würde niemand nach ihm suchen. Niemand, nicht die Polizei, und auch nicht die merkwürdigen Typen, die hinter ihm her waren. Den einen hätte er genau beschreiben können, wenn er gewollt hätte. Ein großer, braun gebrannter Kerl mit stechenden Augen. Er war hinter dem Eisdielenbesitzer hergerannt , der kurz danach zusammen mit seiner Frau erschossen worden war.
Er hatte, wie schon des Öfteren in diesem Sommer, gegen Mitternacht seinen Schlafplatz neben der Parkfläche hinter der Eisdiele bezogen. Wegen des noch brennenden Lichtes bei den Italienern war er sehr vorsichtig gewesen und hatte seine Kerze nicht angezündet. Ein paar Minuten, nachdem er sich hingelegt hatte, war die Hintertür aufgeflogen und der Besitzer des Eiscafés schreiend ins Freie gestürzt. In der Hand hatte er einen Umschlag gehalten, den er in seine Richtung schleuderte. Dann war der Typ aufgetaucht, hatte ihn etwa vier Meter vor dem Schlafplatz des Obdachlosen eingeholt und mit vorgehaltener Pistole zurückgebracht. Waldemar hatte sich während der ganzen Aktion mit angehaltenem Atem an die Wand der Aussparung gepresst, in der er mit dem Umschlag zu seinen Füßen lag. Zunächst wollte er sofort packen und verschwinden, doch er hatte Angst, dass die Hintertür erneut auffliegen und ihn jemand entdecken würde. Also blieb er liegen, tastete nach dem Papier, steckte es in die Hose, zog das Hemd darüber und wartete ab. Ein paar Sekunden später ging die Tür tatsächlich auf und der braun gebrannte Kerl trat heraus. Mit einer Taschenlampe leuchtete er nach links und nach rechts. Waldemars Herz schlug bis zum Hals, als die Schritte des Mannes näher kamen. Doch dann blieb der Fremde stehen, verharrte kurz, bog nach links ab und ging schließlich wieder ins Haus. Mit dem Zuschlagen der Tür blickte der Obdachlose vorsichtig über den Rand der Betoneinfriedung. Der Hof lag wieder verlassen im fahlen Mondlicht. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, stand vorsichtig auf und bewegte sich langsam auf die Ausfahrt zu, um für eine Stunde oder vielleicht auch zwei spazieren zu gehen. Dann jedoch siegte die Neugier über seine Angewohnheit, die Nase nicht in Angelegenheiten anderer Menschen zu stecken. Nicht, dass er den italienischen Eisdielenbesitzer gekannt hätte, nein, aber er hatte sowohl ihn als auch seine Frau des Öfteren gesehen, wenn einer der beiden zum Mülleimer neben der Einfahrt gegangen war oder einen Wassereimer im Hof ausgeleert hatte. Ältere Leute, die viel arbeiteten und sich für ihre Gäste einen Teil der Nacht um die Ohren schlugen.
Mit tastenden Schritten ging er auf das Haus zu. Die alten, abgelatschten Sportschuhe, die er seit mehr als zwei Jahren trug, machten beim Auftreten ein leises, zischendes Geräusch, das ihm jetzt wie die Entladung eines Überdruckventils vorkam. Dann hatte er die Hauswand erreicht, näherte sich auf Zehenspitzen der Tür und legte sein linkes Ohr an das kühle Aluminium. Gemurmel. Stimmen. Was sie sprachen, war jedoch nicht zu verstehen. Und wenn, was hätte er, der seit Monaten nicht mehr Deutsch gesprochen hatte, damit anfangen können? Sein Hals schraubte sich dennoch nach oben, um besser hören zu können. Das jedoch bewirkte augenblicklich ein Kratzen in seiner Kehle, und aus dem Kratzen wurde ein Hustenreiz. Waldemar Sjomin wusste sofort, dass er das Husten nicht würde unterdrücken können. Mit Tränen in den Augen presste er die Hand vor den Mund, schluckte mehrmals und gab dann ein ächzendes Geräusch von sich, das ihm schreiend in den Ohren klang. Erneut legte er das Ohr an die Tür und horchte. Schritte! Noch immer den Hustenreiz unterdrückend, sah er sich um. Keine Chance. Mit einem beherzten Sprung federte er auf die rechte Seite der Tür, die genau in dem Moment aufflog, als er dahinter zum Stehen gekommen war. Die Klinke traf seinen Rücken mit voller Wucht, doch die Tür schwang nicht zurück und verbarg so seinen Körper, zumindest für den Moment. Kaum atmend presste er sich an die Wand, roch ein herbes Aftershave. Dann wieder Schritte, die sich von ihm entfernten. Vorsichtig
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