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Eiszeit

Eiszeit

Titel: Eiszeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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richtete ihn auf. Dann setzte er erneut das Gerät an, und diesmal hielt Lappert still. Er hielt still, obwohl ihm schlagartig klar wurde, dass das Gerät vor seinen Augen eine Tätowiermaschine war, die der Mann dazu benutzte, sein Gesicht zu bearbeiten. Er ballte die Fäuste hinter seinem Rücken in dem Bewusstsein, dass er nichts würde dagegen tun können. Gar nichts.

     
    *

     
    Der Schmerz wanderte von der einen Seite seiner Stirn zur anderen. Lappert hatte mittlerweile die Augen geschlossen, betete lautlos und hoffte, dass die Prozedur möglichst schnell vorübergehen möge. Er machte sich keine Sorgen darüber, dass er womöglich für den Rest seines Lebens entstellt sein könnte, sondern dachte jeden Moment daran, seine Frau und ihr Leben nicht zu gefährden.
    Das Gerät berührte langsam seine Wangen, seine Nase und sein Kinn. Dann verstummte das Geräusch schlagartig. Der Architekt öffnete verstört die Augen und erkannte, dass sein Peiniger das Verbindungskabel aus dem kleinen Kasten gerissen hatte.
    Im Hintergrund hörte er das Wimmern seiner Frau, nahm den Geruch ihres Erbrochenen wahr. Dann war das Geräusch wieder da und mit ihm kamen die Schmerzen zurück.

     
    *

     
    Zehn Minuten später war es vorüber. Lappert hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, seit die Männer in das Schlafzimmer eingedrungen waren. Nachdem das Summen des Gerätes verklungen war, hatte der Grüne ihn nach hinten gestoßen. Nun lag er mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und hörte auf die Geräusche im Raum. Die Schritte der Männer mit den Sturmhauben, ihr Packen, das leise Schluchzen seiner Frau.
    »Herkommen!«, befahl der Rote, der mit einer Rolle Packband in der Hand neben dem Bett stand, Veronika Lappert . Die Frau stand schwankend auf und ging auf ihn zu. Er gab ihr einen Stoß, sodass sie mit einem lang gezogenen Stöhnen auf ihren Mann fiel, kniete sich neben die beiden und fesselte sie an den Hälsen mit dem Paketband aneinander. Heinrich Lappert stöhnte auf, als die Hand des Mannes den Verband an seinem Hinterkopf traf und seine Frau mit ihrem Gesicht seine frischen Wunden, doch der Mann mit dem rollenden R kümmerte sich nicht darum. Er drehte das Band vier oder fünf Mal, riss es auseinander und stand auf. Dann band er den beiden auf die gleiche Weise die Füße zusammen.
    »Ich bin sicher, wir werden uns niemals wiedersehen . Falls doch, ist irgendetwas nicht zu meiner Zufriedenheit verlaufen. Und dann werde ich nicht so großzügig mit Ihnen umgehen wie heute Nacht. Sie wissen beide, was ich will, also tun Sie es für mich. Und nun leben Sie wohl.«
    Damit verließen die Männer den Raum. Der letzte schaltete das Licht aus und überließ die beiden der Dunkelheit.

20
    Waldemar Sjomin betrachtete den sternenklaren Himmel, schloss die Augen und zog an seiner Zigarette. Der Schein des fast vollen Mondes erhellte die Landschaft um ihn herum, selbst hier draußen im Wald. Die Bäume hatten etwas Gespenstisches in diesem fahlen Licht.

     
    *

     
    1991 war er in die Bundesrepublik gekommen, als Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Mit seinen damals 34 Jahren würde ihm eine glänzende Zukunft offenstehen , so dachte er zumindest. Als perfekt ausgebildeter Ingenieur mit Schwerpunkt Materialwissenschaft und einigen Jahren Erfahrung in der Werkstoffprüfung war er geradezu euphorisiert von dem Gedanken, nach Deutschland auszuwandern und dort zu arbeiten.
    Möglich wurde das für ihn, weil sein Urgroßvater Wolgadeutscher war und er sich auf dessen Wurzeln berufen konnte.
    1957 in einem kleinen Dorf 20 Kilometer östlich von Irkutsk geboren, wo sein Vater in einem der größten sowjetischen Wasserkraftwerke arbeitete, wurde seine überragende Intelligenz schon früh bemerkt. Allerdings war es zur damaligen Zeit für einen Russen mit deutschen Vorfahren, die 1942 von der Stalin-Administration nach Sibirien deportiert worden waren, alles andere als einfach, überhaupt den Zugang zu einer weiterführenden Schulausbildung zu erhalten. Der kleine Waldemar jedoch qualifizierte sich mit den besten Leistungen aller Schüler in jeder Jahrgangsklasse. Nach dem Abitur, 1975, nahm er als Stipendiat das Studium an der Staatlichen Technischen Universität in Moskau auf. Auch hier glänzte er mit erstklassigen Leistungen und schloss 1980 als Drittbester seines Jahrgangs ab. Daraufhin bekam er eine gut dotierte Anstellung in einem großen Stahlwerk am Rande Moskaus, das Teile für das sowjetische

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