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Eiszeit

Eiszeit

Titel: Eiszeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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Raumfahrtprogramm entwickelte und produzierte. 1985 verliebte er sich im Sommerurlaub in Olga, eine gleichaltrige lettische Ärztin aus dem damaligen Leningrad, ersuchte um die Versetzung dorthin und wurde einem großen Betrieb für Glas- und Kunststoffbeschichtungen zugeteilt. Anfang 1986 heirateten die beiden, im August gebar Olga den ersten Sohn, Igor. Dann kam der 13. März 1991. Die kleine Familie hatte sich um zwei weitere Kinder vergrößert, mit dem vierten war Olga schwanger. Waldemar war spät von der Arbeit nach Hause gekommen, wo seine Frau mit einem Schreiben des Rates der Stadt auf ihn wartete: Ihr vor mehr als vier Jahren gestellter Ausreiseantrag war bewilligt worden.

     
    *

     
    Am 20. April betraten die Sjomins erstmals deutschen Boden. Weder Waldemar noch ein anderes Familienmitglied sprach auch nur ein einziges Wort Deutsch, jedoch waren ihnen vonseiten des deutschen Konsulats Sprachkurse und weitere Integrationsmaßnahmen zugesichert worden. Nach einem kurzen Aufenthalt in Frankfurt wurde der Familie eine einfache Wohnung in Frankenberg zugewiesen, einer Kleinstadt nördlich von Marburg. Dort lebten sie zwei Jahre, danach zog man um in die benachbarte Kreisstadt Korbach, weil Olga am dortigen Krankenhaus eine Anstellung als Ärztin gefunden hatte. Sie arbeitete viel, während Waldemar sich notgedrungen um den Haushalt und die mittlerweile fünf Kinder kümmerte.
    Mehr als 140 Bewerbungen hatte er geschrieben, drei Sprachkurse und vier Eingliederungsmaßnahmen des Arbeitsamtes besucht. Und er hatte schmerzlich feststellen müssen, dass er zwar ein guter Ingenieur war, aber kein Mann, dem das Lernen einer fremden Sprache in den Schoß fiel. So quälte er sich auch nach vier Jahren in Deutschland noch immer mit rudimentären Sprachkenntnissen seiner neuen Heimat durchs Leben. Während Olga und die Kinder sich mehr und mehr an ihre neue Umgebung gewöhnten und sie genossen, wuchs in ihm die Überzeugung, einen fatalen Fehler begangen zu haben. Oft lag er nachts wach, wenn seine Frau Dienst im Krankenhaus hatte, und dachte an die unbeschwerten Zeiten in Moskau oder Sankt Petersburg, wie Leningrad heute hieß. Er dachte daran, dass ihm während seiner Kindheit oft von Mitschülern oder Lehrern vorgeworfen worden war, kein richtiger Russe zu sein, sondern ein Deutscher, ein Nazi, ein Hitlerfreund. Und nun saß er hier in Deutschland und musste sich an der Supermarktkasse, wenn er wegen der quengelnden Kinder nicht schnell genug seinen Einkauf in den Wagen laden konnte, anhören, dass er doch besser wieder nach Russland gehen solle, wo er hingehören würde.

     
    *

     
    Zwei weitere Jahre vergingen, in denen nichts passierte. Keine Arbeit, kein Verdienst, keine Anerkennung. Die Kinder wuchsen, verbrachten die meiste Zeit des Tages in der Schule oder im Kindergarten. Der Vormittag war die schlimmste Zeit des Tages für ihn und doppelt schwer zu ertragen, wenn Olga dienstfrei hatte. Dann musste er sich auf Deutsch mit ihr unterhalten, was sich meist darauf beschränkte, dass sie ihn wegen seiner Situation mit Vorwürfen überschüttete.
    Meist verbrachte er deshalb diese Zeit mit Einkaufen. Dabei musste er nicht sprechen, und wenn doch, tat er so, als sei er taubstumm. Irgendwann in dieser Zeit entdeckte er die beruhigende und entspannende Wirkung des Alkohols.

     
    *
    Zwei Tage vor Weihnachten 1999 kam Olga nach Hause, packte ein paar Sachen zusammen und eröffnete ihm lapidar, dass sie sich in einen Kollegen verliebt habe und ihn und die Kinder verlassen würde. Er war 42 Jahre alt, hatte als alleinerziehender Vater fünf Kinder zu versorgen und trank.
    Anfang 2001 wurde die Ehe ohne großes Tamtam geschieden. Olga zahlte pünktlich Alimente, Waldemar versank in Kummer und Alkohol. Im darauffolgenden Sommer überschlugen sich dann die Ereignisse. Igor, der Älteste, verübte als Mitglied einer Jugendbande dutzendweise Einbrüche, klaute Autos und Motorräder und prügelte sich. Irgendwann im Juni stand die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss in der Hand und dem Jugendamt im Schlepptau vor der Tür. Während der nächsten Wochen wurde deutlich, dass ein Verbleiben in der Obhut des Vaters dem Wohl der Kinder nicht dienlich sein würde. Die jüngsten zwei landeten bei der Mutter, die mittlerweile wieder allein lebte, die anderen wurden in einem Heim untergebracht. Waldemar Sjomin zog in eine kleine Wohnung, versank in noch mehr Kummer und einer noch größeren täglichen Ration Alkohol. Ein Jahr

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