Eiszeit
verständlich.
»Was sagst du?«, fragte Hain aus dem Flur und trat wieder in den Heizungsraum.
»Ich muss immer das Gleiche denken, wenn ich auf eine Leiche schaue.«
»Und was ist das?«
»Ich denke, dass so ein Leben keine große Sache ist. Schwupps, ein altes Abschleppseil um den Hals, rauf auf den Stuhl und ab dafür.«
»Du hast es geahnt, oder?«
»Geahnt wäre zu viel gesagt. Ich habe es eher befürchtet. Aber bevor du mir jetzt mit einem sechsten Sinn oder Ähnlichem kommst, das ist es nicht. Es war mehr eine Intuition.«
»Also Lebenserfahrung«, knurrte Hain.
»Wie, Lebenserfahrung?«
»Das ist so. Alle Menschen denken immer, Intuition sei so etwas wie ein besonderes Gefühl, das stimmt aber gar nicht. Intuition ist nichts anderes als der Abgleich unserer Erfahrungen, mit dem wir dann Situationen beurteilen. Hab ich neulich gelesen.«
Lenz zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht hätte ich mich doch von dir nach Hause bringen lassen sollen. Was du so für Bücher liest …«
»Meine Freundin hat es gekauft. Ich hab angefangen, darin zu blättern, und fand es interessant. Ziemlich viel Psychokram zwar, aber interessant.«
Er drehte sich um und warf einen langen Blick auf die tote Frau.
»Du denkst darüber nach, dass das Leben keine große Sache ist, wenn du einen Toten siehst. Und ich hab gerade da draußen gestanden und mir überlegt, was gewesen wäre, wenn ich dich wirklich einfach so nach Hause gebracht hätte. Irgendwann wäre ihr Mann wieder hier angekommen, mit Farbe oder Narben im Gesicht, was weiß ich, und der Gestank hätte ihn fast umgebracht, nachdem er sich schon wochenlang gefragt hätte, wo seine Veronika abgeblieben ist.«
»Ja«, nickte Lenz, »so wäre es vermutlich gekommen. Und jetzt lass uns nach oben gehen und uns ein bisschen umsehen, vielleicht hat sie ja etwas zu Papier gebracht, bevor sie zum Seil gegriffen hat.«
*
Während sie noch nach einem Abschiedsbrief suchten, kam der Notarzt an. Hain brachte ihn nach unten, Lenz blieb oben. Als er sich in der Küche des Hauses umsah, beanspruchte ein unangenehmer Gedanke Raum in seinem Kopf: Wer würde dem verletzten Heinrich Lappert die Nachricht vom Tod seiner Frau überbringen? Und wann?
Er blickte in jeden Brotkorb und in jede Zuckerdose, weil er schon auf der Polizeischule gelernt hatte, dass Selbstmörder auf die aberwitzigsten Ideen kamen, wenn es um ihre Abschiedsbriefe ging. Hier aber fand er nichts.
»Ich hab gehört, dass du hier rumschleichst und meine dienstlichen Befehle ganz nonchalant ignorierst«, hörte er die sonore Stimme von Ludger Brandt hinter sich, als er im Wohnzimmer der Lapperts vor der Schrankwand stand. »Und dass du es vorziehst, dem Kleinen zu helfen, statt wie verabredet in den Urlaub abzuhauen.«
Lenz sah, ohne sich umzudrehen, auf seine Armbanduhr.
»Und ich hab gehört, dass du freitags um diese Zeit gerne zu Hause bist und dich um deine Enkel kümmerst.«
»Da wäre ich wirklich gerne«, seufzte Brandt, »aber mein bester Mann hat irgendwie im Moment eine Schraube locker. Vielleicht die Midlife-Crisis, was meinst du?«
Nun drehte der Hauptkommissar sich um und blickte seinem Vorgesetzten lange in die Augen.
»Es tut mir leid, Ludger, aber ich stecke zu tief in der Sache drin, um jetzt einfach in Urlaub zu fahren. Das …«
»Weil du zu tief in der Sache drinsteckst, Paul«, unterbrach Brandt ihn, »weil du zu tief drinsteckst, sollst du ja verduften.«
»Ich kann nicht. Zumindest nicht heute und morgen.«
»Und was willst du während der beiden Tage noch erledigen? Den Mörderfangturbo einschalten?«
Lenz ging auf ihn zu und schob ihn Richtung Terrassentür.
»Komm, wir setzen uns, dann erkläre ich es dir.«
Brandt ging folgsam vor ihm her, und als sie saßen, fing er an.
»Du musst mir gar nichts erklären, Paul. Ich kenne dich lang genug, um zu wissen, was mit dir los ist. Du fühlst dich schuldig am Tod der Iannones , weil du es verpennt hast, seiner Bitte nachzukommen und mit Mälzer zu reden. Aber das ist Quatsch. Keiner von uns konnte ahnen, dass es so ausgehen würde, auch du nicht. Und einen Polizisten, der aus persönlichen Motiven handelt, würde ich jederzeit und ohne Befehl von oben abziehen, auch dich.«
»Das weiß ich. Aber ich bin nun mal von oben abgezogen worden, weil der eine mit dem anderen studiert hat und jeder einen kennt, der einen kennt. So beschissen das auch sein mag.«
»Dass Bartholdy dir den Fall entzogen hat, ist nicht in
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