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Eiszeit

Eiszeit

Titel: Eiszeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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noch ein Mal und immer wieder, bis er so etwas wie eine Ahnung davon hatte, worum es bei den Zahlen und Verträgen ging. Geholfen hatten ihm die grünen und roten Markierungen an manchen Stellen. Dort hatte er genauer hingesehen, verglichen, wieder hingesehen und noch einmal verglichen. Nun war er sich sicher, dass es nur noch ein paar Tage dauern würde, bis er diesem Loch, das er bewohnte, für immer Lebewohl sagen und in ein neues Leben aufbrechen würde.
    Waldemar würde er suchen und ihm einen Teil des Geldes abgeben. Immerhin hatte der verrückte Russe mit seinem Besuch dafür gesorgt, dass er überhaupt in diese komfortable Situation gelangen konnte. Ein Anruf. Ein Anruf würde genügen, dann war all das um ihn herum, worauf er jetzt mit Verachtung blickte, vergessen.

     
    *

     
    Nun stand er vor dem kleinen, blinden Spiegel in seinem heruntergekommenen Bad und betrachtete sein Gesicht. Ganz schön alt geworden, mein Lieber, dachte er, beugte sich nach vorne und riss sich ein paar der wild wuchernden, immer farbloser schimmernden Augenbrauen aus. Dann drehte er sich um, wischte sich mit ein paar Blatt Toilettenpapier noch einmal den Schweiß von der Stirn, holte die Papiere aus dem Versteck und verließ die Wohnung. Unten im Hausflur knickte er den Umschlag und steckte ihn in einen Briefkasten, von dem er wusste, dass er zu einer leer stehenden Wohnung im vierten Stock gehörte, nie benutzt wurde und nur er einen Schlüssel dafür hatte. Später würde er die Papiere wieder herausholen, doch am Tag waren sie in diesem Versteck am sichersten untergebracht für den Fall, dass jemand seine Wohnung filzen würde.
    Es war noch nicht einmal halb neun, und schon zeigte das Thermometer im Schaufenster der Apotheke neben seinem Hauseingang 26 Grad an. Wieder tupfte er sich die Stirn und nahm dann Kurs auf die Straßenbahnhaltestelle etwa 300 Meter stadteinwärts. Wenn er gewusst hätte, wer in dem englischen Nobelcabriolet saß, das an der Ampel hielt, als er die Straße überquerte, hätte er dem elegant gekleideten Mann am Steuer und der braun gebrannten, aschblonden Frau auf dem Beifahrersitz vermutlich mehr Beachtung geschenkt. So jedoch kam er ein paar Augenblicke später an der Straßenbahnhaltestelle an, sprang in die nächste Tram und ließ sich Richtung Innenstadt befördern. Am Königsplatz verließ er die Bahn, lief Richtung Markthalle und betrat fünf Minuten später die Telefon- und Internetboutique von Sergej Kowaljow. Der Russe lehnte wie immer rauchend an der Theke, sah gebannt auf den Monitor, der vor ihm aufgebaut war, und machte vermutlich gerade wieder ein wenig koscheres Internetgeschäft.
    »Morgen, Sergej«, begrüßte Winterschied ihn. Der Russe blickte auf, fing breit an zu grinsen und streckte seine rechte Pranke nach vorn.
    »Guten Morgen, Heinz, mein alter Freund. Ist der Monat schon wieder um? Gibt es eine neue Zeitung?«
    »Nee, Sergej«, winkte Winterschied ab. »Heute muss ich nur mal schnell telefonieren und hab keine Lust, mich in den Krach am Königsplatz zu stellen.«
    »Inland oder Ausland?«, fragte Kowaljow und fing im gleichen Moment an, laut zu lachen. »O. K., war ein Scheißwitz, Heinz. Nimm die Zwei, da bist du ganz für dich.«
    Der Zeitungsverkäufer ging ein paar Schritte nach vorn, öffnete die schalldichte, aber improvisiert wirkende Tür der Telefonkabine Nummer zwei und wollte hineingehen, drehte sich jedoch noch einmal zu dem Russen um.
    »Kannst du eigentlich mithören, wenn jemand bei dir telefoniert, Sergej?«
    »Klar, mache ich auch immer, aber nur bei den Russen. Die rufen nämlich ihre Weiber an und reden ganz schmutzige Sachen in meiner Muttersprache, und das klingt einfach geiler, als wenn du einer Frau erzählst, dass sie schöne, große Titten hat.«
    Wieder lachte er schallend.
    »Das war ein Scherz, Heinz. Kein Schwein würde mehr zu mir kommen, wenn irgendjemand herausbekommen würde, dass ich Gespräche belausche. Also. Du kannst ganz beruhigt deine schmutzigen Telefonate führen, bei Sergej wird der Datenschutz großgeschrieben.«
    Winterschied zuckte mit den Schultern, betrat die Kabine und zog die Tür hinter sich fest zu. Dann griff er in die Hosentasche, zog einen Zettel heraus mit einer Telefonnummer darauf, die er von einem der Verträge abgeschrieben hatte, legte ihn neben sich und nahm den Hörer von dem Apparat an der Wand. Während er wählte, bemerkte er, dass ihm der Schweiß den Rücken hinablief . Seine Hände waren feucht, sein Mund

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