Eiszeit
und fing erneut an zu schluchzen. Lenz schaute aus dem Fenster; draußen versuchte das kleine Mädchen, den Hund mit Sandkuchen zu füttern.
»Was … ist mit meinem Vater?«
»Er ist, wie gesagt, verletzt. Im Gesicht. Es ist nicht auszuschließen, dass etwas zurückbleibt.«
Sie beugte sich hoch. »Wie meinen Sie das?«
»Was mit Ihrem Vater passiert ist, ist sehr ungewöhnlich. Sein …« Der Kommissar stockte. »Sein Gesicht wurde … tätowiert.«
Nun geschah etwas Merkwürdiges. Die Frau setzte sich aufrecht, holte tief Luft und spannte ihre Züge.
»Was hat man mit ihm gemacht?«
»Die Täter, die in der vergangenen Nacht ins Haus Ihrer Eltern eingedrungen sind, haben das Gesicht Ihres Vaters tätowiert. Ich kann Ihnen leider nicht mehr dazu sagen, weil ich nicht mehr weiß. Noch nicht.«
»Sie wollen mir also erzählen, dass meine Mutter tot ist und mein Vater für den Rest seines Lebens entstellt?«
»Das muss ich leider, ja.«
Sie fing an zu zittern, unterdrückte einen Weinkrampf, stand auf und lief hektisch hin und her. »Und ich kann Ihnen sagen, wer dafür verantwortlich ist«, sagte sie dann ganz ruhig.
*
Paula, das kleine Mädchen, und der Hund waren von einer Nachbarin abgeholt worden. Lenz und die Frau, die nun äußerlich gefasst wirkte, saßen in der Küche.
»Meine Eltern hatten in den letzten Wochen und Monaten großen Ärger. Es ging um einen Planungsauftrag, einen großen Planungsauftrag.«
»Den für das Outlet-Center ?«
Sie nickte. »Genau den. Das Büro meiner Eltern hat Tausende von Stunden daran gearbeitet und ist von den Mälzers gnadenlos ausgebootet worden. Die haben einfach nicht bezahlt.«
»Um welche Summe geht es dabei?«
»So genau weiß ich es nicht, weil die beiden mit mir nicht gerne darüber gesprochen haben. Ich glaube, mein Vater hat sich dafür geschämt, dass er so betrogen wurde, und meine Mutter hat respektiert, dass er das Ganze möglichst geheim halten wollte. Aber ich vermute, dass es um eine siebenstellige Summe geht.«
Lenz dachte kurz über den Wert einer siebenstelligen Summe nach und zog dann die Augenbrauen hoch. »Das ist eine Menge Geld.«
»Für meine Eltern sollte es der letzte große Auftrag sein. Danach wollten sie sich irgendwo niederlassen, wo öfter die Sonne scheint als hier in Deutschland.«
»Schöne Vorstellung.«
»Dazu wäre es sowieso nicht mehr gekommen«, erklärte sie ihm kühl.
»Wieso? Das verstehe ich nicht«, erwiderte der Kommissar erstaunt.
»Meine Mutter hätte höchstens noch ein halbes Jahr zu leben gehabt.«
Lenz starrte sie an. »Warum?«
»Sie wusste seit knapp zwei Monaten, dass sie an einem inoperablen Gehirntumor leidet. Sie wollte meinem Vater erst davon erzählen, wenn es nicht mehr zu verheimlichen gewesen wäre. Wir haben in den letzten Wochen öfter darüber gesprochen und ich war bei allen Untersuchungen dabei. Sie wollte diese, wie sie es nannte, unbeschwerten Tage bis zum Moment X unbelastet von der Diagnose mit meinem Vater verbringen. Dieser Moment X war allerdings nicht mehr weit entfernt, weil die Schmerzmedikamente, die sie nehmen musste, immer stärker dosiert werden mussten und sie auch schon mit starken Sehstörungen zu kämpfen hatte.«
»Und Ihr Vater hat nichts davon bemerkt?«
»Nein. Meine Mutter war ihr ganzes Leben lang kränklich. Sie litt seit ihrer Kindheit an Asthma, dazu kam vor einigen Jahren ein Lungenemphysem. Sie können sich also vorstellen, dass mein Vater damit vertraut war, dass es meiner Mutter öfter einmal nicht gut ging. Das hat sie in den letzten Wochen für ihre Zwecke genutzt.«
»Und es gab keine Chance? Keine Operation, keine Chemotherapie?«
» Chemo hat sie kategorisch abgelehnt. Sie hat ihre Schwester vor ein paar Jahren verloren, ebenfalls wegen eines Hirntumors, und hat sie gepflegt in den letzten Wochen ihres Lebens. Seitdem war sie der Meinung, dass mehr Menschen an der Chemotherapie sterben als an Krebs.«
Sie atmete tief durch.
»Die Ärzte haben ihr erklärt, dass es die Möglichkeit der Bestrahlung geben würde, allerdings nur als mögliche Lebensverlängerung, nicht, um zu heilen. Auch das hat sie abgelehnt, nachdem sie mit Patienten gesprochen hatte, die bestrahlt worden sind.«
»Erstaunlich.«
»Ich kann Ihnen sagen, dass sie damit vollkommen glücklich und zufrieden war. Sie hätte gekämpft bis zu dem Tag, an dem es nicht mehr möglich gewesen wäre.«
Die Frau goss Wasser in die beiden Gläser auf dem Tisch und lehnte
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