Eiszeit
Wieder wollte sie anfangen zu schreien, doch dafür hatte sie viel zu wenig Energie und viel zu viel Angst.
Der Transport ging durch ein Treppenhaus, was sie schmerzlich daran bemerkte, dass ihre Wirbelsäule wieder und wieder gestaucht wurde. Dann ein letztes Holpern und eine weitere Lageveränderung . Sie lag auf der Seite. Wie durch Watte hörte sie das Schlagen einer Autotür. Und obwohl sie gedacht hatte, dass die Panik, die sie in der Wohnung erlebt hatte, durch nichts zu steigern wäre, schoss schlagartig eine neue Welle der Angst und der Furcht durch ihren Körper, größer und mächtiger als jemals zuvor in ihrem Leben. Und wieder weinte sie, doch durch die straff sitzende Binde vor ihren Augen schaffte es keine Träne auf ihre zuckenden Wangen.
Wie ein Blitzlicht fiel ihr Franziska Faust ein, die vermutlich schon tot war. Blöde Kuh, dachte sie ohne eine Emotion der Trauer, was machst du auch so eine Scheiße.
Das Fahrzeug, in dem sie sich befand, setzte sich ruckartig in Bewegung. Sie bemerkte die Auswirkungen der Trägheitskraft und wurde bei jedem Fahrmanöver des Wagens in leichte Bewegungen versetzt, denen sie durch ihre eingezwängte Lage nicht entgegenwirken konnte. Und sie bemerkte, wie ihr heiß wurde. Der Schweiß breitete sich auf ihrem Rücken, ihrem Bauch und an ihren Beinen aus. Plötzlich stoppte das Fahrzeug, der Motor wurde abgestellt und eine Tür geöffnet. Kurz danach eine weitere. Dann fielen beide ins Schloss, was sie nicht nur hören, sondern auch spüren konnte. Dann hörte sie nichts mehr außer dem pulsierenden Blut in ihren Ohren.
35
»Ich hab keine Ahnung, wovon er spricht«, meinte Thilo Hain resignierend. »Lass uns zurückfahren und die Suche nach diesen Kerlen intensivieren, Paul.«
Lenz blickte zu Sjomin , der die Polizisten mit großen Augen ansah, dann zu Hain, wieder zurück zu dem Russen und wieder zu seinem Kollegen.
»Nein, Thilo, das interessiert mich. Ich will wissen, was er meint.«
Sein Kollege zuckte mit den Schultern. »Mach mal, du bist der Boss. Obwohl …« Er sprach nicht weiter, weil Lenz sich wieder Sjomin zugewandt hatte.
»Ich habe die Sache mit dem Papier noch immer nicht richtig verstanden. Was war das für Papier, Herr Sjomin ?«
Der Sibirer stieß einen Fluch auf Russisch aus, den natürlich weder Lenz noch Hain verstanden. Er machte eine Pause und suchte offenbar nach einem deutschen Wort. Dann stand er auf, ging zu einem Aktenschrank in der Ecke des Raumes, nahm einen Ordner heraus und klappte ihn auf.
»Hehe«, wollte Hain intervenieren, doch Lenz winkte ab. »Lass ihn.«
Sjomin blätterte die Akten durch, legte den Ordner auf den Tisch, nahm einen Stapel Blätter heraus und steckte sie in seinen Hosenbund. »Da«, sagte er. »Hier Papier.«
»Ich werd verrückt«, japste Hain, »der hat irgendwas vom Tatort mitgenommen.«
»Sie haben Papier mitgenommen, als Sie weggelaufen sind? Stimmt das?«
»Da«, antwortete der Russe und deutete auf seine Hose. »Hier Papier.«
»Und wo ist das Papier jetzt?«
»Papier bei Heinz.«
»Heinz Winterschied ?«, fragte Lenz zweifelnd.
»Da. Heinz.«
»Herr Winterschied war dabei in der Nacht?«
»Nix in Nacht. Ich bringen Hause.«
»Sie haben ihm die Papiere gebracht?«
»Da. Ja.«
»Und er hat sie noch?«
Sjomin zog die Schultern hoch. »Nix wissen.«
»Wissen Sie vielleicht, was auf den Papieren stand?«, wollte Hain wissen und sprach extrem langsam. »Was geschrieben auf Papieren?«
Wieder zog der Russe die Schultern hoch. »Nix wissen.«
Nun hatte Lenz eine Idee. Er machte mit dem Daumen und dem Zeigefinger das auf der ganzen Welt übliche Zeichen für Bares. »War auch Geld bei den Papieren.«
»Nix Geld«, erwiderte Sjomin energisch. »Nur Papier.«
»Wir müssen nach Kassel, Thilo, sofort. Ich will wissen, was für Papiere das sind. Vielleicht ist es nur Schrott, der überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hat, aber ich will es zumindest wissen.«
»Und was machen wir mit Kamerad Schnürschuh?«, fragte Hain mit einem verstohlenen Blick zu Sjomin . »Er hat nichts verbrochen, weswegen wir ihn festhalten könnten.«
Lenz kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Da hast du recht. Aber er darf nicht einfach so verschwinden. Wir brauchen ihn als Zeugen, was auch immer passiert. Und wenn er erst mal weg ist, geht der ganze Tanz von vorne los.« Der Hauptkommissar warf dem Mann mit dem langen Bart und dem strengen Körpergeruch einen freundlichen Blick zu.
»Lass mich mal ein paar
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