Eiszeit
Finger auf die Klingel.
»Ja, bitte«, kam es blechern aus der Sprechanlage.
»Wir sind die Kollegen aus Kassel.«
Ohne eine Antwort wurde der Türöffner betätigt.
»Immer rein in die gute Stube«, wurden sie von einem pausbäckigen Uniformierten empfangen. »Schöne Dienstwagen habt ihr in Kassel«, merkte er noch an. Lenz deutete auf Hain. »Ist sein privater.«
»Und Sie kommen wegen des Penners, der bei uns hockt«, wurde der Mann dienstlich.
»Genau. Wo habt ihr ihn denn her?«
»War ein Zufall. Ein Jagdpächter hat ihn heute Morgen in der Nähe von Spangenberg dabei beobachtet, wie er sein Schlafzeug zusammengeräumt hat. Normal, sagt er, hat er nichts gegen die Leute, weil er keine schlechten Erfahrungen mit ihnen gemacht hat. Allerdings kam der ihm komisch vor, weil er, als er fertig war, durchs Unterholz gestiefelt ist. Der wollte sich wohl abseits der Wege halten, und das hat den Jäger stutzig gemacht. Er hat uns angerufen und zwei Kollegen sind rausgefahren . Es war zuerst gar nicht so einfach, ihn zu finden, hat aber dann doch noch geklappt. Und weil er sich nicht ausweisen konnte oder wollte und kein Wort mit den Kollegen gesprochen hat, haben sie ihn erst mal mitgenommen. Und einer der Kollegen der Frühschicht konnte sich an die Fahndung nach einem Penner aus Kassel erinnern.«
»Klasse. Wo ist er jetzt?«
»Wir haben ihn in eine Zelle gesteckt, weil wir sonst eh nichts mit ihm anfangen können. Er redet einfach nichts.«
»Bringen Sie uns bitte zu ihm?«
Er schüttelte den Kopf, griff zum Telefonhörer und deutete auf einen Flur. »Ich kann nicht von hier weg. Gehen Sie bis zum Ende, dann die Treppe runter und immer links. Ich sage einem Kollegen Bescheid, der schließt Ihnen auf.«
Die beiden Kripoleute bedankten sich und machten sich auf den Weg. Am Ende der Treppe stieß ein Uniformierter mit einem großen, schweren Schlüsselbund in der Hand zu ihnen, brachte sie nach unten und schloss eine Stahltür auf.
»Er riecht etwas streng. Ansonsten scheint er ruhig zu sein.«
»Danke. Wir melden uns, wenn wir fertig sind.«
Damit zogen sie an der Tür, die sich quietschend öffnete.
*
Waldemar Sjomin saß mit einem Buch in der Hand auf der Pritsche und las. Er hob kurz den Kopf, als die Tür geöffnet wurde, senkte jedoch sofort wieder den Blick. Seine fettigen Haare und der dichte, grau melierte Bart ließen ihn wesentlich älter wirken, als er tatsächlich war.
»Guten Tag«, grüßte Lenz, trat auf den Mann zu und streckte ihm die rechte Hand entgegen. Sjomin sah ihn erstaunt an, bewegte sich aber nicht.
»Waldemar?«
Die Erwähnung seines Namens war für den Russen ein kleiner Schock. Mit flackernden Augen und kurzen, heftigen Atemstößen starrte er den Kommissar an, der seinen Dienstausweis aus der Jacke nahm und ihm zeigte.
»Sie müssen keine Angst haben. Wir sind Polizisten aus Kassel und haben ein paar Fragen an Sie. Verstehen Sie mich?«
Keine Reaktion.
Lenz blickte Hain an, der mit den Schultern zuckte.
»Ich spreche kein Russisch.«
Der Hauptkommissar nickte und wandte sich wieder Sjomin zu.
»Sprechen Sie ein bisschen unsere Sprache?«
Ein leichtes Nicken.
»Schön. Können Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«
Der Russe legte das Buch neben sich und steckte die Handflächen mit der Innenseite zum Bett unter seine Oberschenkel.
»Waldemar Sjomin «, antwortete er leise.
»Waldemar Sjomin «, wiederholte Lenz, dessen Herz einen Freudensprung machte, ebenso leise.
»Und Sie verstehen mich, Herr Sjomin ?«
Wieder ein Nicken. »Nix gut sprechen. Gut hören.«
»Das macht nichts. Ich bin sicher, wir können uns verständigen. Aber nicht hier, das gefällt mir nicht.« Er wandte sich an seinen Kollegen. »Fragst du mal oben nach, Thilo, ob wir ein Zimmer von denen benutzen können? Ich will nicht hier rumstehen .«
»Mach ich«, erwiderte Hain und verließ die Zelle, in der nichts anderes stand als die Pritsche und ein ausgeblichener Plastikeimer.
»Wir gehen, wenn es die Möglichkeit gibt, in ein anderes, schöneres Zimmer«, erklärte Lenz dem Mann möglichst langsam. Der nickte wieder nur. Kurze Zeit später kam Hain zurück. »Kein Problem. Wir kriegen eines ihrer Vernehmungszimmer.«
Sie gingen nach oben und auf der Treppe hatte auch Lenz den Eindruck, dass Waldemar Sjomin dringend ein wenig Körperhygiene nötig hätte. Dann saßen sie sich an einem Tisch gegenüber. Ein Uniformierter brachte Kaffee und Wasser und verzog sich wieder. Sjomin trank
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