Eiszeit
Minuten mit ihm allein, Thilo.«
»Gerne«, erwiderte sein Kollege, stand auf und verließ den Raum. Lenz deutete auf den Tabak, der vor Sjomin lag, und dann auf sich. »Darf ich mir eine Zigarette drehen?«
»Da«, nickte der Russe und schob das Päckchen über den Tisch. Lenz, der zum letzten Mal während der Ausbildung gedreht hatte, griff danach und begann, eine Zigarette zu rollen.
»Wo wollten Sie eigentlich hin, Herr Sjomin ?«
»Weg. Weg Deutschland. Rossija . Ukrajina .«
»Zurück nach Russland? Das ist ein weiter Weg.«
»Nix weit.« Der Mann aus Sibirien deutete auf seine Schuhe. »Gut. Nix weit.«
»Ich will ganz offen sein, Herr Sjomin . Wir haben nichts gegen Sie in der Hand, und wenn Sie wollen, könnten Sie auf der Stelle gehen, nachdem Sie ein Protokoll unterzeichnet haben, auf dem Sie Ihre Aussagen unterschrieben haben. Aber ich möchte, dass Sie uns ein paar Tage zur Verfügung stehen.«
Waldemar Sjomin wirkte ratlos und deutete dann auf den Boden. »Hier bleiben muss?«
»Nein, nein, nicht direkt hier. Was würden Sie davon halten, wenn wir Sie irgendwo unterbringen würden, wo es schön ist? In einem Hotel vielleicht? Sie könnten duschen, sich rasieren, und vielleicht einmal richtig ausschlafen. In einem richtigen Bett.«
»Nix Hotel.« Er stand auf, kam auf Lenz zu und rollte sein rechtes Hosenbein hoch. Lenz wurde schlagartig übel. Er warf die fast fertig gedrehte Zigarette auf den Tisch und sprang auf. Das Bein war bis oberhalb des Knies schorfig, blutig und aufgekratzt und sah wirklich übel aus. Der Russe hob das andere Hosenbein. Dort war das Dilemma noch größer.
»Scheiße, das muss sich doch ein Arzt ansehen, Herr Sjomin .« Er bedeutete dem Mann, die Hosenbeine wieder nach unten zu ziehen.
»Da, scheiße«, bestätigte Waldemar Sjomin . Lenz überlegte fieberhaft, dann hatte er eine Idee.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir lassen Sie ins Klinikum nach Kassel bringen. Ich bin sicher, mit diesen Beinen haben die Ärzte dort eine gehörige Menge zu tun. Und Sie versprechen mir im Gegenzug, dass Sie so lange in der Stadt bleiben, bis die Sache mit den Italienern geklärt ist.«
Zu seiner großen Überraschung streckte Sjomin sofort den Arm nach vorne und hielt ihm die Hand entgegen. »Da, wir so machen«, antwortete er.
Zeitgleich mit einem Krankenwagen verließen die Kasseler Polizisten Hessisch Lichtenau.
*
»Wir müssen herausfinden, wo Winterschied wohnt«, erklärte Lenz seinem Kollegen, während der, die gebotenen Geschwindigkeitsbeschränkungen großzügig auslegend, Richtung Kassel raste.
»Ruf Lemmi an. Bis wir in Kassel sind, sollte er es rausgekriegt haben.«
»Gute Idee«, erwiderte Lenz und griff zum Telefon. Im Tosen des offenen Autos konnte er den Kollegen kaum verstehen, doch dem erging es eher noch schlechter. Als sie auf Höhe der Autobahnauffahrt Kassel-Ost waren, kam der Rückruf. Winterschied war in der Fiedlerstraße 14 gemeldet, in einem weniger angesehenen Viertel der Stadt.
*
Das Haus, in dem der Zeitungsverkäufer wohnte, war in einem erbärmlichen Zustand. Hain parkte den Mazda davor, stieg aus und sah sich um.
»Lass uns mal lieber das Dach zumachen«, schlug Lenz vor.
Sein Kollege winkte energisch ab. »Du spinnst wohl. Dann schneiden sie mir am Ende noch ein Loch in den Stoff. Nein, lass mal, die bösen Buben sollen ruhig sehen, dass es hier für sie nichts zu holen gibt.« Er drückte auf den Knopf eines kleinen Plastikteils, das an seinem Schlüsselbund befestigt war. »Jetzt wirds zumindest laut, wenn sich einer an der Karre vergehen will«, erklärte er seinem Chef. Sie gingen zur Haustür, fanden den Namen des Zeitungsverkäufers am Klingelbrett und wollten gerade läuten, als Hain bemerkte, dass die Haustür nur angelehnt war.
»Warte«, meinte er und trat in den Hausflur. Es roch nach Essen und ein bisschen muffig.
Neben einer bunt bemalten Tür im zweiten Stock war der Name Winterschied in die nackte Wand gekratzt. Hier hatte sich ein ganz besonderer Künstler ausgetobt. Lenz legte den Finger auf die Klingel, doch es passierte nichts. Er versuchte es erneut, mit dem gleichen Ergebnis. Hain grinste ihn an und hämmerte mit der Faust gegen das metallene Türblatt. Wieder keine Reaktion. Auch er wiederholte seinen Versuch. Nun war aus dem Innern ein verhaltenes Stöhnen zu hören. Der Oberkommissar polterte erneut gegen die Tür.
»Ich komme ja schon. Was soll denn dieser Krach?«
Dann eine kurze
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