Elben Drachen Schatten
Stirnfalte kennzeichnete sein ansonsten glattes Gesicht, als er den Augenlosen betrachtete. Siranodir mit den zwei Schwertern hielt sich etwas abseits, und auch Ygolas der Bogenschütze und Merandil der Hornbläser schienen eine natürliche Scheu vor dem uralten Wesen zu empfinden.
Sandrilas deutete auf die Überreste des Feuerbringers, die sich inzwischen ― offenbar in einem sehr rasch voranschreitenden Zersetzungsprozess ― in eine übel riechende, schleimige Masse verwandelt hatten. »Wir wurden Zeuge des Kampfes, den ihr Euch mit diesem Wesen geliefert habt, mein König«, sagte er. »Zumindest das Ende dieses Kampfes bekamen wir mit.«
»Das ist der Feuerbringer – oder besser gesagt das, was von ihm übrig blieb«, erklärte Keandir. »Diese Insel stand unter einem Fluch, der jetzt gebrochen sein dürfte. Wir hätten sie nicht verlassen können, wäre es mir nicht gelungen, diese Kreatur zu besiegen.«
Sandrilas trat vor die Leiche Hyrandils, des Sohns Bolandors. »Er stand Euch offenbar im Kampf zur Seite, mein König«, sagte er.
Keandir schluckte schwer. Offenbar hatten die Elben unter Prinz Sandrilas' Kommando nicht mitbekommen, dass er es gewesen war, der Hyrandil tötete hatte. Er fühlte Erleichterung darüber. Aber irgendwann würde er vor Fürst Bolandor treten und ihm die Wahrheit gestehen müssen. Daran ging kein Weg vorbei …
»Wir haben die Küste des grünen Landes jenseits der Meerenge gesehen«, meldete sich Thamandor zu Wort. »Und wir wurden auch Zeugen, wie magische Winde verhinderten, dass unsere Kundschafterschiffe dieses Zwischenland erreichten.«
»Diese Winde sind Teil des Fluchs«, erklärte der Augenlose, bevor Keandir antworten konnte. »Ich bin sicher, dass sie uns nun nicht mehr behindern werden.«
»Uns?«, echote Prinz Sandrilas ungläubig.
»Ich rettete Eurem König das Leben, wofür er versprach, mich aus meiner Ewigkeiten langen Gefangenschaft zu befreien.« Er streckte seine Zauberstäbe empor. Der goldene Affe an der Spitze des hellen Stabs begann sich zu bewegen, und aus den Augen des Totenschädels an der Spitze des dunklen Stabs drang eine rußähnliche Wolke; erst auf den zweiten Blick war zu erkennen, dass es sich dabei um einen Schwarm winziger Teilchen handelte.
Der Augenlose Seher riss den Schlund auf, und auch aus seinem zahnlosen Maul entschwebte eine Wolke schwarzer Teilchen, die sich mit dem Schwarm aus dem Totenkopf vermischte – und dann schoss dieser Schwarm pfeilschnell auf Keandir zu und drang durch seine Nasenlöcher in ihn ein!
Der Augenlose wandte sich Prinz Sandrilas und den anderen Elben zu. »Ihr werdet mich jetzt zu jenem Kontinent bringen, dem ihr den Namen ›Zwischenland‹ gegeben habt, so wie es mit eurem König ausgemacht war!«, bestimmte seine Geisterstimme. »Dort werde ich mit eurer Hilfe ein Reich errichten, wie es die Welt noch nicht gesehen hat!«
Sandrilas drehte sich nach Keandir um. »Dem könnt Ihr unmöglich zugestimmt haben, Herr!«
Keandir antwortete nicht. Stocksteif stand er auf einmal da, und Sandrilas sah, dass seine Augäpfel wieder pechschwarz geworden waren.
»Er steht unter dem Einfluss dieser Kreatur!«, rief Branagorn. »Seid vorsichtig! Dieses Monstrum verfügt über eine sehr wirksame Magie, die ich bereits zu spüren bekam!«
»Seine Magie schreckt mich nicht!«, entgegnete Prinz Sandrilas. »Und welche Ansprüche diese hässliche Mischung aus Zwerg und Mensch auch immer stellen mag – kein Elb wird sich ihr unterwerfen!«
»Einer hat sich mir bereits unterworfen«, erklärte der Augenlose. »Euer König. Und ihr werdet es auch tun. Indem ihr mir dient, werdet ihr Teil haben an meiner Macht – einer Macht, die alles übertrifft, was ihr euch in der Vergangenheit vorzustellen vermochtet!«
»Das werden wir ja sehen!«, meinte Thamandor, trat vor und schoss seine rechte Einhandarmbrust ab. Doch der mit magischem Gift versehene Bolzen prallte an einer unsichtbaren Schutzglocke ab, die um den Augenlosen entstanden war, und traf einen der Elbenkrieger. Er schrie kreischend auf, als der Bolzen seine Brust durchbohrte und der durch das Gift ausgelöste Brand seinen Körper zu zerfressen begann. Augenblicke später war nichts als Asche von ihm übrig.
»Das war Oéndir, der Sohn von Kapitän Garanthor!«, entfuhr es Branagorn, dessen Hand zwar den Griff seines Schwerts in ohnmächtiger Wut umklammerte, der aber nicht wage, die Klinge gegen den Augenlosen zu erheben; niemand wusste besser als er, wie
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