Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
loszuschluchzen.
Da nahm er seine Pfote von ihrer Schulter, stand auf, leckte ihr noch einmal das Gesicht und trat zur Seite.
»Danke«, sagte Svenya leise, ging zu ihm hin, kraulte ihn noch einmal und küsste ihm die fellige Stirn. »Danke, Brodhir. Wolf. Ich werde dich nie vergessen.« Dann lief sie los – wieder in Richtung des Aufzugs. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass Brodhir noch immer wie angewurzelt stand, wo er war. Die Trauer in seinem Blick sprengte ihr fast die Brust, und für einen winzigen Moment erwog Svenya, ihren Plan an den Nagel zu hängen und hierzubleiben. Hier, wo so vieles war wie dieser Wolf: wundersam, fantastisch, liebevoll und großherzig. Hier, wo sie eine Prinzessin war und kein Gossenmädchen. Wo sie in einem Palast lebte statt unter Brücken … wo sie keine Angst haben musste, im Winter zu erfrieren … Wo sie aber entweder von einem Drachen getötet oder selbst zur Mörderin gemacht würde. Zur Mörderin an einem unschuldigen Wesen.
Es kam immer wieder auf dasselbe hinaus: Abhauen war die einzige Option.
Svenya beschleunigte ihren Schritt, bis sie schließlich rannte – um sich selbst der Chance zu berauben, es sich noch einmal anders zu überlegen … weil es der Verstand schwer hat, dem Weg der Entscheidung zu folgen, wenn das Herz sirenenhaft die Schönheit eines anderen Pfades besingt.
Svenyas Wangen waren nass von ihren eigenen Tränen, und ihre Füße fühlten sich schwer an wie Blei. Doch sie blieb nicht stehen. Am Lift angekommen, benutzte sie den Flashdrive und betrat die Kabine.
Welchen Befehl hatte Yrr dem Aufzug damals gegeben, an ihrem ersten Tag in Elbenthal, als sie mit Raik die Flemys geritten waren? Undir flaki – Unters Dach. Vermutlich war mit Flaki die Oberfläche gemeint – die Überreste der Dresdener Festung in der Nähe des Zwingers.
»Flaki«, sagte Svenya mit fester Stimme. Doch der Lift reagierte nicht.
»Flaki«, sagte sie noch einmal – aber noch immer geschah nichts. Also versuchte sie: »Undir flaki.«
Augenblicklich fuhr der Lift los. Dann würde sie eben von einer Etage weiter unten aus einen Weg an die Oberfläche suchen müssen.
Die rasante Fahrt nach oben verstärkte das flaue Gefühl, das sie im Bauch hatte. Svenya war in ihrem Leben schon oft abgehauen – aus Heimen, weg von Pflegeeltern, vor der Polizei und den Arbeitern des Jugendamtes –, aber noch nie von einem Ort, an dem sie eigentlich gerne bleiben wollte … einem Ort, der, ohne dass ihr das zunächst bewusst gewesen war, mehr zu ihrem Zuhause geworden war als jeder andere Ort zuvor. Aber was man von ihr erwartete … was Hagen von ihr erwartete, war einfach zu viel. Wie sehr wünschte sie sich, der Wyrm wäre der Test gewesen – inzwischen war sie sich nämlich sicher, dass sie den bestanden hätte.
Aber Oegis …? Könnte sie Oegis töten?
Vielleicht … wenn er sie angreifen würde. In Notwehr. Aber auch dann hatte Svenya keine Ahnung, wie sie eine Bestie von dieser Größe besiegen sollte. Sie schüttelte sich, um den Gedanken loszuwerden. Wieso dachte sie überhaupt noch darüber nach? Sie hatte ihre Entscheidung doch längst gefällt, und jetzt musste sie sich auf die Flucht konzentrieren, nicht auf irgendwelche möglichen oder vielmehr hochgradig unmöglichen Drachentöter-Szenarien.
Der Lift kam zum Stehen, und die Tür öffnete sich. Svenya verharrte einen Moment lang völlig regungslos, um sicherzustellen, dass draußen niemand war, der sie fangen oder mit dem sie zusammenrempeln konnte. Erst als sie die Gewissheit hatte, alleine zu sein, trat sie heraus. Dann machte sie sich auf die Suche nach einer Treppe, die zur Oberfläche führte. Minutenlang rannte sie von einer Tür zur anderen – aber nirgendwo gab es ein Treppenhaus, das nicht ausschließlich nach unten führte. Entweder war hier wieder Elbenmagie im Spiel, zur Sicherung der Festung, oder es gab hier einfach keine direkte Verbindung nach oben. Svenya wurde heiß und kalt, und sie fühlte, wie sich ihr wertvoller Vorsprung mehr und mehr verringerte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Yrr das Bewusstsein wiedererlangte, sich befreite und Alarm schlug.
Nach einer Handvoll weiterer fehlgeschlagener Versuche fiel ihr nur noch ein einziger Ausweg ein: die Flemys. Sie hatte keine Ahnung, wie man sie ritt, aber sie hatte auch keine Alternative. So schnell sie konnte, lief Svenya raus auf die Plattform. Sicherheitshalber aktivierte sie ihren Panzer und legte die Tarnung ab.
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