Elbenzorn
und zwar so plötzlich, dass noch nicht einmal seine Gefährtin und engste Mitarbeiterin davon gewusst hatte. Ob sie wollte oder nicht – sie konnte jetzt nur abwarten, bis Glautas wieder daheim war.
Iviidis war ein wenig unsicher, ob sie Indrekin zu Alvydas mitnehmen konnte. Ein lebhaftes kleines Kind war möglicherweise nicht das, was der alte Elb gut ertragen konnte oder wollte. Aber da sie heute nicht auf die Betreuung der Dienerinnen zählen konnte, die sich sonst um ihren Sohn zu kümmern pflegten, sah sie keine andere Möglichkeit.
»Wir besuchen heute einen Mann, der sehr alt ist«, sagte sie, als sie Indrekin morgens anzog. »Ich freue mich, wenn du sehr lieb zu ihm bist und versuchst, ganz leise zu sein. Er ist krank, weißt du?« Der Junge sah sie ernst an. »Stirbt er?«, fragte er.
Iviidis wusste nicht, was sie antworten sollte. Wie kam er auf diese seltsame Idee?
»Wir sterben nicht«, sagte sie schließlich. »Wir sind Elben, Indrek. Nur Menschen sterben.«
»Du hast gesagt, er ist alt. Alte sterben«, beharrte das Kind.
Iviidis band die Schnüre seines Hemdes zu einer Schleife und strich ihm das Haar aus der Stirn. »Du hast mit der Frau geredet«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie sie heißt. Die Menschenfrau, die sich um die Wäsche kümmert.«
Indrekin bohrte in der Nase. »Lass das«, sagte Iviidis. »Elben sterben nicht, Indrek. Alvydas ist einfach sehr alt und müde, das ist alles. Sei lieb und benimm dich. In der Nase bohren gehört nicht dazu!«
Sie nahm ihn an die Hand und ging mit ihm hinaus. Indrekin war stumm, sie sah an seiner gerunzelten Stirn und dem angespannten Gesicht, dass er nachdachte.
»Dann sind ja alle immer da«, sagte er, als sie schon ein Stück vom Haus entfernt waren.
»Wen meinst du?«, fragte Iviidis.
»Alle. Wenn wir nicht sterben, sind alle immer da.« Iviidis stöhnte innerlich. Dies war eins der schwierigsten philosophischen Konzepte, die das Elbenvolk kannte, und sie musste es jetzt einem Kind erklären, das noch nicht in der Lage war, sich alleine anzuziehen. Irgendwie hatte sie gehofft, dass es Olkodan treffen würde, aber der war jetzt leider nicht in Reichweite.
»Du hast recht, Indrek. Eigentlich müssten alle Elben, die jemals gelebt haben, noch hier im Wandernden Hain sein, und wir müssten noch alle unsere Könige und Königinnen in der Hohen Halle antreffen können. Bis auf die, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind«, fügte sie schnell hinzu.
»Gewaltsam«, wiederholte Indrekin fragend.
»Das heißt, sie hatten einen Unfall, oder jemand hat sie getötet«, erklärte Iviidis. »In den Kriegen sind viele Elben getötet worden.«
Indrekin dachte stumm darüber nach. »Die bösen Zwerge machen den Krieg«, sagte er dann.
Iviidis seufzte. »Zwerge sind nicht böse, Indrek. Wir leben schon lange in Frieden mit den Unterirdischen.«
Der Junge sah sie zweifelnd und ein wenig bockig an. »Zwerge sind wohl böse«, beharrte er.
Iviidis ließ das Thema auf sich beruhen. Irgendjemand in Glautas’ Haushalt hatte Indrekin von den bösen Zwergen erzählt, und darauf würde er jetzt bestehen, bis er – oder sie selbst – blau im Gesicht war, das wusste sie aus Erfahrung.
Sie gingen über eine sanft geschwungene Brücke. Ihre Schritte klangen hohl und hallend vom Dach der Brücke wider. »Wo sind die, die nicht tot sind?«, kehrte Indrekin zu Iviidis Verzweiflung zu seinem ursprünglichen Thema zurück, als sie wieder auf weichem Gras wandelten.
»Das weiß niemand«, sagte Iviidis. »Manche glauben, dass die, die vom Leben müde geworden sind, über das Meer nach Westen segeln, in ein anderes Land. Andere sagen, dass unsere Seelen dorthin zurückkehren, wo sie in den Anfängen der Zeit herkamen – zurück in die Hügel und Bäume und Blumen. Dann glauben manche, dass tief unten im Süden, wo die Welt nur noch aus großer Hitze und noch größerer Kälte besteht, ein Ort ist, an dem Steine stehen, die einmal Elben waren. Indrek, ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«
Der Junge sah einer Schwalbe nach, die über ihm ihre Flugkünste vorführte. »Ich finde es heraus«, sagte er ernsthaft. »Dann sage ich es dir, Mama.«
Iviidis musste lachen. »Darüber würde ich mich sehr freuen, Indrek«, sagte sie.
Sie gingen weiter, und als Indrekin sich beschwerte, dass seine Füße ganz, ganz müde seien, nahm Iviidis ihn auf den Arm, staunte über sein Gewicht und trug ihn den Rest des Weges auf ihren Schultern.
Sie sangen das Lied vom starken
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