Elena - Ein Leben für Pferde
Papa, »kaum ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Hast du mal auf die Uhr geguckt?«
»Ich hatte so einen Hunger.« Ich gähnte und setzte mich auf. »Du hast mich ja ohne Abendessen eingesperrt.«
»Weil du meine Möbel zertrümmert und mich angeschrien hast«, entgegnete Papa und setzte sich auf die kleine Couch.
Unsere Blicke trafen sich. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen und ich fand, dass er nur noch erschöpft und überhaupt nicht mehr wütend aussah. Er roch nach Alkohol und Zigaretten, so als ob er den ganzen Abend in einer Kneipe gesessen habe.
»Sag mal«, begann Papa nun zögernd. »Was hast du denn vorhin damit gemeint, als du gesagt hast, ich hätte Mama aus dem Haus geekelt?«
»Du schreist Mama dauernd an und machst ihr Vorwürfe.« Ich zuckte mit den Schultern. »Dabei kann sie doch auch nichts dafür, dass wir Probleme haben. Sie kriegt immer alles ab.«
Papa starrte gedankenversunken auf seine Knie. Wahrscheinlich würde er mich gleich anmeckern, weil ich mich in Dinge einmischte, die mich nichts angingen.
»Ich gehe jetzt ins Bett«, sagte ich. »Ich muss morgen in die Schule. Gute Nacht.«
Ich wollte an ihm vorbeigehen, da ergriff er mein Handgelenk. »Warte«, sagte er leise. »Bitte …«
Ich sah in seine müden Augen und auf einmal fiel mir ein, was Mama neulich gesagt hatte. Er hat Angst. Angst, dass er hier alles verliert.
»Kleine Elena.« Papas Stimme klang traurig. »Manchmal vergesse ich, dass du gar kein kleines Mädchen mehr bist. Du kriegst eine Menge mit, nicht wahr?«
»Ich bin ja nicht blöd«, erwiderte ich.
»Komm.« Er ließ mich los und klopfte neben sich auf das Polster der Couch. »Setz dich noch einen Augenblick zu mir.«
Ich gehorchte und sah ihn abwartend an. Früher war alles so anders gewesen. Ich hatte ihn angebetet, meinen Vater! Er hatte mich auf dem Arm herumgetragen und mit mir gespielt, mich vor sich auf sein Pferd gesetzt und war mit mir zusammen geritten. Doch je älter ich wurde, desto weniger Zeit hatte er für mich gehabt. Und seit einigen Monaten sprach er eigentlich nur noch mit mir, wenn ich etwas falsch gemacht hatte. Das letzte Mal, dass wir uns unterhalten hatten, ohne zu schreien, lag Wochen zurück. Es war an Weihnachten gewesen, als ich morgens früh die Pferde gefüttert und getränkt hatte.
»Weißt du, wo Mama ist?«, fragte er schließlich.
»Ja.«
»Sagst du es mir oder hat sie dir das verboten?«
»Quatsch! Wieso sollte sie das verbieten? Sie ist bei Opa und Oma in Bonn.«
»So. Hm.« Er starrte vor sich hin. »Hat sie noch irgendetwas zu dir gesagt, bevor sie weggefahren ist?«
»Nur, dass sie es hier nicht mehr aushält und mal für ein paar Tage rausmuss.«
Papa seufzte und rieb sich mit beiden Händen sein müdes Gesicht.
»Papa?«
»Hm?«
»Meinst du, wir werden irgendwann wieder eine richtige Familie?«
»Sind wir das denn nicht mehr?«, fragte er dumpf, ohne mich anzusehen.
»Du bist doch sowieso nur noch unterwegs. Mama ist jetzt auch weg. Und wenn ihr mal zusammen seid, dann streitet ihr oder keiner sagt einen Ton. Das ist doch wohl keine Familie mehr!«
Papa schwieg.
»Auch wenn wir Schulden haben …« Ich wählte meine Worte vorsichtig, um Papa nicht wieder aufzubringen. »Und auch wenn die blöden Teicherts ihre Pferde weggeholt haben und die Corinna, der Engelbert, die Kaisers und die Zicke Laura ausgezogen sind, muss deshalb doch nicht unsere Familie kaputtgehen, oder? Mama hat ja nur noch Angst davor, dass du wieder rumbrüllst, und sitzt hier und weint.«
»Stimmt das?« Papa blickte auf und ich sah etwas Neues in seinen Augen: Kummer.
Ich nickte. »Mama ist den ganzen Tag hinter den Leuten her, damit sie ihre Stallmiete bezahlen«, fuhr ich fort, immer darauf gefasst, dass er wütend werden konnte. »Gleichzeitig hat sie Angst, dass noch weitere Einsteller ausziehen könnten. Und dann wartet hier im Büro wieder nur ein neuer Stapel Rechnungen auf sie und du willst nie etwas davon hören.«
Papa stieß einen Seufzer aus. Eine ganze Weile sagte niemand von uns beiden etwas.
»Mama kommt doch wieder, oder?«, fragte ich leise.
»Ganz sicher tut sie das«, erwiderte er, aber es klang eher so, als ob er sich selbst davon überzeugen wollte. »Geh jetzt ins Bett. Du hast doch morgen Schule.«
Auf einmal tat Papa mir sehr leid. Ich hatte mich in der letzten Zeit oft über ihn geärgert, ihn manchmal regelrecht gehasst, wenn er Mama so ungerecht behandelt und angebrüllt
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