Elfenblick
Sie setzte sich direkt neben ihm auf den Boden, und es störte sie auch nicht, als er seinen Kopf an ihre Schulter lehnte. Sollte er sich ruhig einen Moment ausruhen.
Mageli wollte auch gerade die Augen schließen, als mit einem Mal die Wellen kräftiger an den Strand zu schlagen begannen. Dann tauchte etwas aus dem See auf. Holzplanken, ein Bug, ein Boot! Von der Kraft des Wassers an Land geschoben, blieb es vor ihnen liegen. Schwungvoller, als Mageli es ihm in seinem Zustand zugetraut hätte, sprang Ondulas auf, schnappte sich sein Bündel und ging zu dem kleinen Kahn.
»Komm schon.« In seinen müden Augen glomm ein Lächeln. Mit einer auffordernden Geste bedeutete er Mageli einzusteigen, schob das Boot vom Strand zurück ins Wasser und schwang sich ebenfalls hinein. Augenblicklich setzte das Boot sich in Bewegung auf den Wasserfall zu, ganz von allein, ohne dass es von einem Motor oder von Rudern vorangetrieben wurde.
Je näher sie dem Wasserfall kamen, desto lauter wurde sein Tosen. Mageli musste unwillkürlich an eine Reportage denken, die sie mal über die Niagara-Fälle gesehen hatte. Da waren die verrückten Touristen in Booten bis fast unter die tobenden Wassermassen gefahren und dabei ziemlich nass geworden. Auch ihnen spritzte bereits die Gischt entgegen, und dieser Wasserfall wirkte auf Mageli nicht viel kleiner als sein Pendant in Amerika. Sie duckte sich, befürchtete schon, gleich würde ihr Boot direkt in die Wand aus Wasser hineinfahren und die nassen Massen würden sie unter sich begraben – doch dann teilten sie sich und das Boot fuhr einfach mitten hindurch.
»Willkommen in meinem bescheidenen Reich.«
Auch auf dieser Seite der Höhle lag hinter dem Wasserfall ein Strand, breiter jedoch und eher erdig als sandig. Dort stand eine hochgewachsene Frau in einem langen weißen Kleid. Ihr ebenfalls weißes Haar fiel ihr offen bis zu den Hüften, um ihre Stirn lag ein schmaler silberner Reifen, verziert mit kleinen milchig blauen Steinen. Ein silberner Gürtel hielt das gerade geschnittene Kleid um die Taille zusammen, die Schnalle schmückte ebenfalls ein blauer Stein, allerdings war dieser groß wie ein Taubenei. An den Händen, die die Frau ihnen grüßend entgegenstreckte, trug sie mehrere Ringe mit verschlungenen Mustern in den Einfassungen und verschiedenen farbigen Steinen: Einer war blutrot, einer grasgrün, einer himmelblau, einer sonnengelb und einer schwarz wie die Nacht. Das also war die weise Alawin.
»Wie ich sehe, hast du einen Gast mitgebracht«, sagte sie an Ondulas gewandt, wobei sie Mageli aus Augen musterte, die exakt die gleiche Farbe hatten wie die Steine in ihrem Stirnreif.
Mageli kletterte aus dem Boot, aber Ondulas blieb kraftlos sitzen, und in diesem Moment musste auch Alawin aufgefallen sein, dass es ihrem Besucher nicht gut ging. Mit wenigen schnellen Schritten war sie am Boot und beugte sich über Ondulas’ Bein.
»Eine Dunkelelfenklinge«, hörte Mageli ihre Gastgeberin murmeln. »War sie vergiftet?«
Vergiftet? Das Wort jagte Mageli einen Schauer den Rücken hinunter. Über diese Möglichkeit hatte sie gar nicht nachgedacht. Ondulas schüttelte nur müde den Kopf.
»Ich glaube nicht. Es fühlt sich nicht danach an.«
»Gut, gut, immerhin. Dann komm.« Alawin griff unter Ondulas’ Arm hindurch, legte die Hand auf seinen Rücken und zog ihn mit erstaunlicher Kraft aus dem Boot. Schnell eilte Mageli an seine andere Seite und stützte seinen Ellenbogen.
»Wir bringen ihn am besten hinein, dort kann ich ihn besser versorgen«, erklärte Alawin mit sanfter Stimme, aber in befehlsgewohntem Tonfall.
Hinein? Mageli konnte kein Haus oder etwas in der Art entdecken. Zwar hingen auch in dieser Höhle wie in der Elfenstadt Wurzeln von der Decke herab, doch sie waren nicht zu den ihr bekannten tropfenförmigen Behausungen geformt. Vielmehr erweckten sie den Eindruck eines kunstvoll angelegten, verdrehten Gartens, bei dem die Bäume von der Decke hingen und leuchtende Pilze die Blüten formten. Aber wo wohnte Alawin?
Die Elfe dirigierte ihre Besucher durch den hängenden Garten, bis sie auf der anderen Seite an die nackte Höhlenwand gelangten. Dort befand sich ein breiter Durchgang im Fels, der mit farbigen Tüchern verhängt war. Mit ihrer freien Hand hob Alawin die Tuchbahnen zur Seite und geleitete Mageli und Ondulas hinein.
Wieder einmal konnte Mageli über die Schönheit elfischer Baukunst nur staunen. Der Höhlenraum war kreisrund und nicht übermäßig groß,
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