Elfenblick
zu dem Tisch hinüber. Die Bücher darauf waren bereits aufgeschlagen und Mageli konnte einen Blick hineinwerfen. Schnell wurde ihr klar, dass diese Werke sich nicht nur äußerlich von denen unterschieden, die Mageli normalerweise las.
Alle Bücher waren von Hand geschrieben, in geschwungener, teils gar verschnörkelter Schrift, und viele Seiten waren mit farbigen Zeichnungen versehen: Pflanzen, Tieren und anderen Wesen, die Mageli wenn überhaupt nur aus Märchen kannte. Manche schienen zur Illustration des Geschriebenen zu dienen, andere zum reinen Schmuck. Die Schrift war schwierig zu entziffern, aber nach einer Weile erkannte Mageli, dass sie mehrere Bücher mit Rezepten vor sich hatte sowie eine Art Lexikon der Tierwelt, in dem auch die Fabelwesen eine Rolle spielten.
Das war ja alles ganz interessant, aber Mageli stand der Sinn mehr nach einem Band mit Erzählungen, elfischen Epen, Gedichten oder Geschichten. Sie wollte etwas über die Traditionen und Überlieferungen in dieser für sie neuen Welt erfahren. Suchend ließ sie ihren Blick über die Borde schweifen. Doch durch die fehlenden Titel war das ein aussichtsloses Unterfangen. Sie konnte ja schlecht jedes Buch herausnehmen.
Plötzlich blieben ihre Augen wie magnetisch angezogen an einem einzelnen Band hängen. Es war ein schmales Buch, das trotzdem mit seinem ungewöhnlichen Einband aus golden schimmerndem Material zwischen seinen Nachbarn herausstach. Komisch, dass ihr das Werk nicht schon früher aufgefallen war! Sie machte einige zögerliche Schritte darauf zu. Dieses Buch strahlte etwas Seltsames aus. Mageli fühlte sich gleichzeitig davon angezogen und zurückgestoßen, als berge es ein Geheimnis, das besser nicht gelüftet werden sollte. Vorsichtig streckte sie die Hand danach aus, umschloss es dann fest und zog es mit mehr Entschlossenheit, als sie tatsächlich fühlte, aus dem Regal. Was erwartete sie zwischen diesen beiden Buchdeckeln?
Mageli trug das Buch hinüber an den Tisch und legte es behutsam ab. Sie atmete tief ein. Und aus. Dann schlug sie es an einer beliebigen Stelle auf. Die Schrift war dieselbe wie bei den anderen Büchern, aber es fehlten die Abbildungen. Und noch etwas war anders: Die Texte waren nicht mit schwarzer Tinte geschrieben, sondern mit goldener. Mageli begann zu lesen, konnte sich aber keinen Reim auf die Wörter und Sätze machen, die sie nach und nach entzifferte. »… wird am Tag, da der Himmel den Mond verschlingt, ein Sohn gezeugt werden, und dieser wird die Geschicke des Volkes mehr als dreihundert Jahre lenken …«
Mageli blätterte weiter.
»… wird ein Feuer das Leben des Königs auslöschen, und nur ein Mann vom Blute des Königs kann den König retten …«
Noch zwei Seiten weiter:
»… Verrat wird das Volk in die Finsternis stoßen, und diese Finsternis wird umfassend sein und die Seelen ergreifen …«
Mageli verstand nicht, was da stand. Dennoch blätterte sie weiter und weiter und las und las, bis sie schließlich bei den letzten Zeilen angelangt war.
»In der Nacht der Sonnenwende wird die Königin eine Tochter gebären. Und dieses Kind wird die Elfen ins Licht zurückführen. Und wer diesem Kind ein Leid antut, der wird selbst leiden, und wer es tötet, der wird selbst sterben.«
Ein Räuspern ließ Mageli hochfahren.
»Du hast das Buch der Orakel entdeckt.«
Mageli war so gefesselt gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, als Alawin den Raum betrat. Erwischt! Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Alawin lächelte ihr wissendes Lächeln, als verstünde sie genau, welche Anziehungskraft dieses Buch besaß.
»Eine interessante Lektüre, wohl wahr. Und sie hat mir einigen Ärger eingebracht. Wobei es natürlich weniger das Buch war als die Orakel selbst. Aufgeschrieben habe ich sie ohnehin nur, um sie zu erhalten, falls mir etwas zustoßen sollte. Im Grunde ist alles, was da steht, auch hier drin zu finden.« Alawin klopfte leicht mit ihrem Mittelfinger an ihre Schläfe.
»Und was bedeutet es?« Mageli blickte die Elfe gespannt an.
»Nun, das ist die große Frage. Die Orakel sind natürlich längst nicht immer verständlich. Oder wir verstehen sie erst, wenn sie eintreffen. Es sind Blicke in die Zukunft. Sie künden uns ein Ereignis an oder weisen uns den Weg. Ein jeder kann das Orakel befragen, unsere Herrscher tun es natürlich besonders gern. Ich selbst bin nur das Medium, ich übermittle, was mir die Geister mitteilen.«
»Und warum hast du deswegen Ärger bekommen?
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