Elfenblick
entdecken und endlich herauszufinden, wo sie eigentlich war. Dann sah sie Bäume, fühlte das Gras unter ihren Händen und hörte den Fluss sanft plätschern.
Sie lag wieder auf der Lichtung.
Erin war irgendwo an einem fremden Ort. Und er brauchte ihre Hilfe. Dringend! Seine Stimme hatte so schrecklich geklungen, als wäre er krank oder schwer verletzt. Mageli konnte sich keinen Reim darauf machen. Ihr wurde ganz übel vor Sorge.
Vielleicht war das nur ein blöder Albtraum gewesen, versuchte sie sich zu beruhigen. Aber für einen Traum hatte es sich viel zu real angefühlt. Wie immer, wenn sie Erin begegnete. Dass das alles nur Träume gewesen sein sollten, konnte sie in diesem Moment noch weniger glauben als zuvor. Und wenn das tatsächlich kein Traum gewesen war, dann war Erin in Gefahr. In großer Gefahr!
Sie hätte heulen können, so hilflos fühlte sie sich.
Mageli verbrachte eine weitere schlaflose Nacht. Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bett herum. Ihre Sorge um Erin wuchs von Minute zu Minute. Sobald sie die Augen schloss, sah sie ihn verloren im Regen stehen, seinen unglücklichen Blick auf sie gerichtet. Und ständig hörte sie, wie er mit erstickter Stimme ihren Namen rief.
Mühsam wälzte sie sich am Morgen aus dem Bett und schleppte sich zur Schule. Rosann musterte sie mit besorgtem Blick und löcherte sie so lange, bis Mageli ihr schließlich alles erzählte, was am Vortag passiert war: von ihrem Besuch bei Inga und von Silas’ rätselhaftem Auftritt, von ihrer Internetrecherche und schließlich von ihrem schrecklichen Traum und der Gefahr, in der Erin vermutlich schwebte. Rosann schüttelte nur ungläubig den Kopf.
»Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Mageli.
»Hä?«, fragte Mageli trotzdem.
»Nietzsche. Ach, vergiss es. Kleine, du bist da in eine ziemlich komische Sache geraten.«
Mageli nickte ergeben. Rosann hatte ja so recht!
»Und du hast nicht vor, den guten Ratschlägen deiner besten Freundin – also mir – Folge zu leisten und das Ganze zu vergessen, oder?«
Mageli schüttelte müde den Kopf.
»Dachte ich mir.« Rosann seufzte. »Tja, im Traum und in der Liebe gibt es wohl keine Unmöglichkeiten.«
»Und was soll das heißen?«
»Das ist von János Arany, einem Ungarn, und soll heißen: Wenn ich dir helfen will, muss ich die Möglichkeit, dass an deiner Geschichte etwas Wahres dran sein könnte, zumindest theoretisch in Betracht ziehen.«
Mageli hasste es, wenn Rosann so geschwollen daherredete, aber sie nickte wieder, dieses Mal mit etwas mehr Nachdruck.
»Na gut. Nehmen wir einmal an ‒ auch wenn ich nicht daran glaube ‒, nehmen wir also rein hypothetisch an, dass du nicht bloß geträumt hast, sondern dass du auf eine nicht näher zu erklärende Weise im Schlaf eine Art Reise wohin auch immer gemacht hast.«
Mageli nickte wieder.
»Gut«, fuhr Rosann fort. »Nehmen wir weiter an, dass Erin tatsächlich existiert. Dann resultiert daraus, dass Erin irgendwo in einer nicht näher benannten Gefahr steckt.«
Noch ein Nicken.
»Und du tatsächlich gewillt bist, ihn zu retten.«
Mageli zuckte mit den Schultern, nickte dann aber wieder. »Sicher, wenn ich wüsste, wie.«
»Tja.« Rosann wusste für einen Moment auch nicht weiter, doch dann hatte sie eine Idee.
»Wenn Erin dir die Wahrheit gesagt hat – rein hypothetisch gesprochen ‒, wenn er also tatsächlich ein Elfenprinz ist und irgendwo im Elfenreich in Gefahr schwebt, dann wäre es wohl am sinnvollsten, du unterhältst dich mit jemandem darüber, der sich mit dem Thema auskennt.«
»Inga.« Magelis düstere Miene hellte sich ein wenig auf. Darauf hätte sie eigentlich auch früher kommen können. Rosann schaute sie mit einem Ausdruck an, der zu sagen schien: Hättest du mich mal gleich gefragt.
»Weißt du, was, du fährst jetzt schön zu deiner Sagen-Oma, und ich erzähl dem Lehrpersonal, du hättest was am Magen und wärst nach Hause kotzen gegangen. Und nachher treffen wir uns auf ein Eis bei Gino und quatschen in Ruhe über alles. Okay?«
»Okay.«
Rosann nahm Mageli in den Arm und drückte sie kurz, aber fest an sich. Sie war eben die beste Freundin, die man sich wünschen konnte!
Mageli stieg in den nächsten Bus nach Neuenburg, der um diese Zeit angenehm leer war, setzte sich auf einen freien Fensterplatz und lehnte ihren Kopf gegen die kühle Scheibe. Fast augenblicklich schlief sie ein. Erst als der Fahrer sie an der Endstation an der Schulter
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