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Elfenlicht

Elfenlicht

Titel: Elfenlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Hennen
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einmal wagten aufzublicken,
    Gundaher verließ die halbfertige Burganlage durch das Tor und ging die Mauer entlang nach Süden. Der Baumeister hatte sich einen schweren blauen Umhang um die Schultern geschlungen. Er blickte kurz zu den Zinnen empor. Vorgestern hatte er sie auf der Mauer entdeckt, aber kein Wort gesagt. Er wusste, dass sie ihn beobachtete.
    Im Osten zeigte sich ein schmaler Silberstreifen zwischen den Bergen. Mit ihm kam ein eisiger Wind. Staunend sah Kadlin, wie der Sturmwind eine breite Fahne aus feinem Schnee von dem Berggipfel blies, der den Pass im Süden überragte. Es sah aus, als wolle der Wind dem schroffen Felsgestein seinen weißen Schleier entreißen.
    Gundaher legte den Umhang ab. Er begann sich zu strecken und hüpfte eine Weile auf der Stelle. Ein seltsamer Kerl, der Baumeister. Dann verneigte er sich in Richtung des Silberstreifs am Horizont.
    Kadlin stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich so weit wie möglich über den Rand der Mauer hinaus.
    Jetzt hob Gundaher seine ausgestreckte Arme über den Kopf, sodass sich die Handflächen berührten. Der Baumeister war ein korpulenter Mann mit einem kurz geschorenen Kinnbart. Er musste wohl etwa vierzig Jahre alt sein; sein Haupthaar wurde bereits dünner. Dennoch bewegte er sich erstaunlich gewandt. Jetzt machte er einen Satz mitten in eine Fläche aus unberührtem Schnee. Von Mag hatte Kadlin erfahren, dass der Baumeister jeden Winter im ersten Morgenlicht in den Schnee hinausging, um zu tanzen. Er war ein Fremder und ein einflussreicher Mann bei Hof. Niemand hatte ihn je gefragt, warum er das tat.
    Es gab viele Gerüchte. Die meisten glaubten, dass Gundaher damit einen Wintergott aus seiner Heimat ehrte.
    Kadlin wusste, dass es einen anderen Grund geben musste. Sie verließ Björns Kammer stets noch vor dem Morgengrauen. Dabei war sie auf die morgendlichen Spaziergänge des Baumeisters aufmerksam geworden. Und auf seine seltsamen Tänze. Und sie kannte sein Geheimnis, zumindest einen Teil davon.
    Wahrscheinlich könnte ihn die ganze Besatzung der Burg beobachten, und keiner würde sehen, was sie sah. Außer Silwyna vielleicht ...
    Die Jägerin dachte an jenen fernen Sommer zurück, als Silwyna sie und ihre Schwester die Priesterrunen gelehrt hatte. Immer wieder hatten sie beide die Elfe bedrängt, ihnen Zaubern beizubringen. Sie wussten, dass es Magie war, wenn Silwyna selbst im kältesten Winter nie fror oder leichtfüßig über Zweige lief, die so dünn waren, dass sie kaum ein Eichhörnchen getragen hätten. Und sie wollten genauso sein wie Silwyna. Doch sie scheiterten immer und immer wieder. Dennoch wurden sie es nicht müde und bettelten die Elfe an, sie in die Kunst einzuweihen, Magie zu weben.
    Kadlin erinnerte sich noch gut an jenen Abend am See, als sie alle drei im weichen Sand gesessen hatten und es wieder einmal um das leidige Thema gegangen war. Damals hatte Silwyna gesagt, Worte seien wie der Wind. Einmal ausgesprochen, seien sie verschwunden und würden nur als ein Echo in unserer Erinnerung weiterleben. Doch wie ein Echo Worte veränderte, die man in eine Felsklamm rief, so veränderte auch die Erinnerung die Worte, und das sei schlimm, denn die Hälfte aller Lügen auf der Welt hätten ihre Wurzeln in diesen falschen Erinnerungen.
    Wie immer, wenn die Elfe erzählte, hatten die beiden Mädchen ihr an den Lippen gehangen. Sie hatte eine lustige Geschichte über einen Luthpriester vorgetragen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Zauber zu ersinnen, mit dem man den Wind einfangen könne. Ein weit gereister Händler hatte ihm nämlich einmal erzählt, der Wind sei in Wirklichkeit ein unsichtbares Pferd, das Firn, dem Gott des Winters, einst davongelaufen sei. Der Priester hoffte, sich Firn zum Freund zu machen, wenn er dessen Pferd einfing, und er wollte versuchen, den Gott zu überreden, dem Fjordland mildere Winter zu schenken.
    Sein ganzes Leben widmete er dem Versuch, das unsichtbare Pferd zu fangen, doch alles, was er erreichte, war, einen Zauber zu weben, der es ihm erlaubte, Worte einzufangen. Er erfand die Priesterrunen.
    Und diesen Zauber hatten die beiden Mädchen in jenem Sommer erlernt. Es war der einzige Zauber, den sie jemals bewältigt hatte, dachte Kadlin wehmütig. Sie dachte daran, wie sie mitStöcken in den Sand gemalt hatten und mit verkohlten Ästen auf Birkenrindenstücke. Ganz besessen waren sie davon gewesen. Und Vater und Mutter hatten ihnen nur staunend zugesehen. Kalf hatte sogar

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