Elfenlicht
Abgrund stürzen!
»Findest du, wir sollen die Trolle mit unseren Leibern erschlagen, wenn wir sie schon nicht mit unseren Pfeilen töten können?«, schrie sie ihn an. Sie war sich bewusst, dass sie ihre hilflose Wut an ihm ausließ, und war dankbar zugleich, ein Opfer gefunden zu haben. Der Elf trug ein dünnes weißes Hemd mit einer aufgenähten Kapuze. Auch seine übrigen Kleider waren weiß, ja, sogar sein Schwertgurt, der Köcher mit Pfeilen und sein Bogen. Schon auf ein paar Schritt Entfernung war er bei leichtem Schneetreiben so gut wie unsichtbar. Die Krieger aus seinem Gefolge waren ganz ähnlich ausgerüstet. Und noch etwas anderes hatten sie gemeinsam. Sie alle waren viel zu dünn angezogen. Wahrscheinlich konnten sie sich als Elfen durch irgendeinen Zauber gegen die Kälte schützen. Doch genau das gab ihnen in Kadlins Augen nicht das Recht, sich so überheblich aufzuführen, wie sie es taten. Sie ließen keine Gelegenheit aus, den Menschen zu zeigen, dass sie ihnen in allem überlegen waren. Sie konnten länger durch den Schnee wandern, besser schießen und schienen sich sogar in den Bergen rings um Firnstayn besser auszukennen als die Menschen, die dort schon seit Generationen lebten.
Aber was waren das für Leistungen, wenn ihnen die Magiedie Mühsal des Überlebens nahm? Kadlin verachtete die Maurawan! Wenn man auf dem tiefen Schnee gehen konnte, statt sich mühsam einen Weg durch ihn bahnen zu müssen, wenn man den Stachel der Kälte nicht fühlte und nicht mit der Angst einschlief, am nächsten Morgen mit erfrorenen Füßen zu erwachen, und wenn man verzauberte Bögen hatte, mit denen man niemals sein Ziel verfehlte, was hatte man dann selbst geleistet, worauf man sich etwas einbilden durfte? Nichts!
Der Elf mit den himmelgrauen Wolfsaugen lächelte sie an. »Wenn deine Blicke Pfeile wären, dann hätten wir die Schlacht schon gewonnen. Vorausgesetzt, du würdest sie auf die Trolle abschießen und nicht auf mich.«
»Wenn du dich hier vom Klippenrand noch näher an die Trolle bewegst, werde ich dir gerne folgen.« Sie deutete in den Abgrund. »Selbstverständlich lasse ich dir den Vortritt.«
Das Lächeln des Elfen wurde noch breiter. »Ich nehme dich beim Wort.« Er griff unter sein Schneehemd und holte eine weiße Seilrolle hervor. Auch andere Mauravan bereiteten nun Seile vor. Einige Bogenschützen schlugen schwere Haken in den Felsen und knoteten ihre Seile daran fest. Dann seilte sich der Erste mit dem Rücken zum Abgrund ab. Atemberaubend schnell glitt er das weiße Seil hinab, bis er plötzlich mit einemRuck innehielt. Vor einem Überhang schwebend, nahm er den Bogen von der Schulter und zog einen Pfeil aus dem Köcher. Die Windböen ließen den Schützen leicht pendeln. Er zog die Sehne durch. Kadlin sah seinen Pfeil den Trollscharen entgegenfliegen. Ob er traf, konnte sie nicht ausmachen.
»Wer nicht in den Abgrund geht, gibt all seine Pfeile denen, die sich jetzt abseilen!«, befahl der Elf, den Kadlin als Fingayn kannte. »Am besten sucht ihr Halt an der Klippe! Frei schwingend über dem Abgrund zu schießen heißt, nur unnötig Pfeile zu verschwenden.«
Zwei Elfen mit Rucksäcken verteilten ein merkwürdiges ledernes Gurtzeug an die Bogenschützen.
Fingayn half Kadlin mit den Beinen in einen Gurt zu steigen, der ihr als sicherer Sitz dienen sollte. Ob sie sich freiwillig meldete, um abgeseilt zu werden, hatte er erst gar nicht gefragt. Kalf trat an ihre Seite. Ihr Vater versuchte, sie von der waghalsigen Klettertour abzubringen. Als das nichts nutzte, nahm er sich selbst einen Gurt.
Fingayn gab ihr letzte Anweisungen und bestand darauf, dass sie seine Handschuhe anzog. »Du hältst immer eine Hand am Seil, bis du einen sicheren Halt gefunden hast. Und stoß dich beim Abseilen mit den Füßen von der Wand ab.« Kadlin hatte den Bogen geschultert und das Seil mit der Linken umklammert. Sie stand mit dem Rücken zum Abgrund. Der eisige Wind zerrte an ihren Kleidern, und ihre Gedärme rebellierten vor Angst. Kalf stand neben ihr, bereit, ebenfalls in den Abgrund zu gleiten. »Pass auf dich auf, mein Mädchen!«, schrie er gegen den Wind an.
Kadlin wünschte, sie hätte die Klappe gehalten. Nun kam auch Fingayn herüber. »Du wolltest mir folgen. Dann zeig einmal, wie viel Mut du hast.« Er trat zurück und verschwand im Abgrund.
Kadlin presste die Lippen zusammen. So ein Mistkerl! Ihre Hände waren trotz der Handschuhe ganz taub vor Kälte. Sie machte den Schritt zurück in den
Weitere Kostenlose Bücher