Elfenlord
drängten sich nach vorn und begannen einen regelmäßigen, komplexen Rhythmus zu schlagen. Die Klänge hatten eine sofortige Wirkung auf Ino, der die Augen verdrehte, sodass nur noch das Weiße zu sehen war. Dann begann er in kurzen, willkürlichen Bewegungen vorwärts und rückwärts zu schlurfen. Nach einer Weile begann er zu sabbern, dann zu zucken. Henry beobachtete ihn nervös. Der Schamane sah jetzt einem Zombie aus einem zweitklassigen Horrorfilm ziemlich ähnlich.
Henrys Nervosität wuchs noch, als er seine Blicke von Ino abwandte, um den versammelten Stamm zu mustern. Viele – Hand aufs Herz, Henry, die meisten – rollten jetzt mit den Augen und fielen in den Rhythmus ein, als wären sie alle in Trance geraten. Selbst Lorquin sah völlig erstaunt und benommen aus.
Mehrere der Frauen begannen wieder zu tanzen, aber es war ein wilder, disharmonischer Tanz, der manchmal sogar dazu führte, dass sie zusammenstießen. Einige Männer stießen laute, unvermittelte Schreie aus. Die ganze Szene wirkte wie etwas, das allmählich außer Kontrolle geriet, und Henry gefiel das gar nicht. Noch weniger gefiel ihm, dass der seltsame Trommelrhythmus auch auf ihn zu wirken begann. Seine Augen wurden schwer und sein Verstand war ganz matschig, sodass er sich mit aller Macht zwingen musste, aufzupassen, damit er nicht einschlief.
Dann brach das Trommeln abrupt ab. Sofort kam ein schrilles Geheul von den Frauen und Ino warf sich wild zuBoden und drehte sich wie ein Breakdancer. Seine Augen waren glasig und leer, alle Glieder zuckten. Dann begann er mit dem Kopf auf das Pflaster zu schlagen. Zu Henrys Schrecken knirschte sein Schädel.
»Ich sage –«, warf Henry nervös ein.
Ino reagierte auf Henrys Stimme, als wäre er gestochen worden. Eben hatte er noch flach auf dem Boden gelegen und jetzt warf er sich in einer ganz unmöglichen Bewegung hoch, um schließlich in der Hocke zu landen. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus.
»Charaxes!«, sang der Stamm sofort. »Charaxes! Charaxes! Charaxes!«
In der Hocke starrte Ino wie ein wütender Hund zu Henry hoch. Die Ähnlichkeit war so verblüffend, dass Henry einen Augenblick lang dachte, er könnte tatsächlich angreifen, dann schloss Ino seine Augen, sein Gesichtsausdruck wurde ganz passiv und seine Lippen begannen sich zu bewegen. Der Stamm hörte schlagartig auf zu singen.
Henry schob seine Ängste beiseite und hockte sich neben Ino. Das Murmeln des Schamanen hörte sich an wie ein Dialog, dem man durch eine gepolsterte Tür hindurch lauscht, aber Henry verstand kein einziges Wort. »Was?«, fragte Henry. »Was sagst du?«
Dann war Lorquin an Henrys Seite. »Sag jetzt nichts, EnRi«, sagte er leise. »Ino spricht mit deinem Charaxes.«
Henry wartete. Ino drehte sich abrupt zu ihm um. »Ich sehe ihn«, sagte er.
»Wen siehst du?«, fragte Henry blöderweise.
»Ich sehe deinen Charaxes. Er wünscht, dass du ihm sagst, warum du dich nicht an das gehalten hast, was er dir aufgetragen hat.«
Henry sah den Schamanen verständnislos an.
Der Schamane starrte ihm in die Augen, blinzelte zwei Mal und sagte: »Er hat meinen Leuchtfaden weggenommen.« Die Stimme, die er gebrauchte, war die Stimme einer Frau und Henry erkannte sie sofort.
Henry erschrak. »Blue …?«, flüsterte er. Sein Bauch krampfte sich zusammen. War Blue schon tot?
»Ich finde nicht mehr zurück«, sagte Ino.
»Blue? Blue, wo bist du?«
»Im Dunkel«, sagte Ino deutlich. Von Sekunde zu Sekunde klang die Stimme mehr nach Blue.
»Was für ein Leuchtfaden?«, fragte Henry. »Wer hat ihn dir weggenommen?«
»Der Clown«, sagte Blue. »Er hat ihn mir weggenommen.«
Das ergab doch alles überhaupt keinen Sinn. Aber die Stimme war Blues Stimme: Da war er sich ganz sicher. Irgendwie sprach er mit Blue durch den Mund eines Luchti-Schamanen. »Was für ein Clown?« Dann, nachdrücklicher: »Wo bist du, Blue?«
»Die Schlange wird mich schnappen«, sagte Blue. Sie klang, als wäre sie halb im Schlaf.
Die Situation wurde langsam unerträglich. Henry hatte das Bedürfnis, Ino zu packen und zu schütteln, nur dass ein Blick in Inos Gesicht ausreichte, um ihm klarzumachen, dass der Schamane längst nicht mehr da war. Seine Augen, die zuvor schon nicht besonders lebendig ausgesehen hatten, wirkten jetzt bodenlos und leer. Er war aus der Hocke zu Boden gesunken und saß jetzt auf dem Pflaster. Jeder Muskel war so schlaff wie die Glieder einer Stoffpuppe. Mit aller Macht zwang sich Henry,
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