Elfennacht 01. Die siebte Tochter
großen Eichenbaum überschattet wurde. »Komm, wir setzen uns dorthin und du erzählst mir alles.«
Anita lächelte ernst. »Na gut«, sagte sie. »Du hast es so gewollt.«
Sie lehnten sich mit dem Rücken an den Eichenstamm, während die Hunde um sie herumliefen und im Gras herumschnüffelten. Die Anwesenheit der Tiere war seltsam tröstlich für Anita, die mit geschlossenen Augen sprach.
»Die Sache ist die«, begann sie, »dieser Ort hier, diese ganze Welt, ist nur ein Traum. In Wirklichkeit liege ich in diesem Moment im Krankenhaus. Vielleicht bin ich in eine Art Koma gefallen. Oder sie haben mir irgendwelche Medikamente gegeben, von denen ich diese ganzen verrückten Sachen träume.« Sie hielt inne und wartete auf eine Reaktion von Cordelia, doch die schwieg. »Du denkst, ich bin verrückt, oder?«, sprach sie in die Stille hinein. Sie schlug die Augen auf und sah ihre Schwester an. »Du denkst, ich bin verrückt.«
Cordelia schüttelte langsam den Kopf. »Das denke ich nicht, Tania«, sagte sie. »Aber ein Teil von dir ist wohl noch immer verschollen.«
Anita seufzte. »Na ja, natürlich kannst du mir nicht glauben«, sagte sie. »Du gehörst ja auch in die Traumwelt. Und mir gefällt es hier, Cordelia, wirklich. Aber ich kann nicht den Rest meines Lebens in einem Traum verbringen. Ich muss aufwache n – und wenn ich aufwache, wird dies alles«, sie machte eine ausholende Geste, »verschwunden sein.« Sie schluckte schwer. »Ich werde wieder in der echten Welt sein, in der mein Freund vermisst wird.« Sie runzelte die Stirn. »In diesem Traum ist er nicht verschwunden. Er ist hie r – aber ich träume alles ganz falsch. Hier liebt er mich nich t … un d …« Ihre Stimme wurde brüchig. Ihre Emotionen drohten sie zu überwältigen. » … und ich will nur, dass es endet. Ich möchte nach Hause!«
Cordelia blieb eine Weile stumm. »Dies ist kein Traum«, sagte sie schließlich. »Das Elfenreich ist so echt wie die Welt der Sterblichen.«
»Nein, ist es nicht«, beharrte Anita. »Ich war gerade in der echten Welt, genau das ist nämlich eben passiert. Ich bin aufgewacht!«
Cordelia blickte sie ruhig an. »Du bist nicht aufgewacht, Tania. Du bist von unserem Reich in die Welt der Sterblichen hinübergewechsel t – wozu nur du allein die Fähigkeit hast.«
Anita schüttelte den Kopf. »Ich bin aufgewacht«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Du wirst es mir nie glauben, aber genau das ist passiert.«
»Und wie ist es dir in der Welt der Sterblichen ergangen?«, fragte Cordelia.
»Nicht besonders gut«, entgegnete Anita. In ihrer Erinnerung sah sie wieder den Bus vor sich, der auf sie zuraste. »Ich bin überfahren worden vo n …« Ihr versagte die Stimme. Sie hatte mitten auf der Straße gestanden und einen Unfall gehabt. »Eigentlich müsste ich tot sein«, flüsterte sie. »Normalerweise stirbt man bei so einem Aufprall.« Diesen Zusammenstoß konnte sie unmöglich überlebt habe n – und doch war sie hier. Anita rollte sich zusammen wie ein Igel und verbarg das Gesicht in den Händen. »Das ist doch total verrückt«, murmelte sie. »Was geschieht bloß mit mir?«
Das musste ein Traum sein. Musste! Sonst wäre alles, woran sie sich aus ihrem Leben erinnert e – ihre Eltern, Evan, Jade und ihre anderen Freundinne n –, alles, was sie jemals gesagt oder gefühlt oder erlebt hatte, für immer verloren.
»Du gehörst ins Elfenreich«, sagte Cordelia liebevoll. »Du bist Prinzessin Tania, meine jüngste Schwester, die endlich zu uns zurückgekehrt ist.« Sie berührte Anita am Arm. »Dass du erst vor ein paar Augenblicken zwischen den Welten hin- und hergegangen bist, ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass ich Recht habe. Im Moment bist du vielleicht noch nicht in der Lage, die Gabe zu kontrollieren, aber das wirst du lernen.«
»Nein!«, rief Anita. »Nein! Nein! Nein!« Sie rappelte sich auf. »Hör auf damit!«, schrie sie. »Du existierst nicht wirklich!«
Sie rannte blindlings den Hang herab, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie hörte, wie Cordelia ihr etwas hinterherrief, aber schon bald wurde die Stimme leiser und Anita lief weiter, ohne darauf zu achten wohin. Sie durchquerte rauschende Wäldchen und weite Wiesen, rannte und rannte, bis ihre Lungen brannten und sie furchtbares Seitenstechen hatte.
Schließlich wurde das Land flacher, bis vor Anita schließlich wogendes Schilf schulterhoch aufragte. Sie kämpfte sie sich vorwärts, indem sie das Schilf mit den Händen
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