Elfennacht 01. Die siebte Tochter
viele Dinge aus Metall.« Sie unterbrach sich. »In der Welt der Sterblichen, meine ich. Wir machen zum Beispiel Messer und Gabeln daraus. Und Schmuck und Autos und Flugzeuge und Brücken und Uhren und Computer, alles mögliche eben.«
Sancha blickte sie beklommen an. »Ich glaube, ich weiß, wovon du sprichst«, sagte sie, kam näher und senkte die Stimme: »Hier wird es Isenmort genannt. Auf uns wirkt es tödlich, es ist ein Fluc h – so bösartig und stark wie Gift.« Sie schauderte. »Die Leute in der Welt der Sterblichen müssen sich mit mächtigen Sprüchen und Beschwörungen vor seiner zerstörerischen Wirkung schützen.«
»Dort braucht man das nicht«, sagte Tania. »Metall ist völlig harmlos. Wir würden gar nicht ohne auskommen.« Sie riss die Augen auf. »Oh! Gerade fällt mir was ein. Kurz vor dem Unfal l – also, bevor ich hierherka m – sprühten jedes Mal, wenn ich Metall berührte, Funken. Dad sagte, das sei nur die statische Aufladung, aber ich wusste, dass mehr dahinterstecken musste.« Sie sah Sancha an. »Warum ist Metall so schlimm?«
»Weil es in dieser Welt nicht vorkommt«, antwortete Sancha. »Bei Berührung verdorrt die Haut und es frisst die lebenswichtigen Organe an.«
»Kein Wunder, dass ich einen Schlag davon bekommen habe«, flüsterte Tania. »Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass ich nicht auf der Stelle tot umgefallen bin.« Sie runzelte die Stirn. »Aber wenn ich in diese Welt gehöre und auf die Berührung von Metall reagiere, warum hat es dann erst vor ein paar Wochen angefangen, mich zu beeinträchtigen?«
»Möglicherweise ist deine Elfenseele erst langsam erwacht?«, vermutete Sancha.
Tania nickte. Ja, vielleicht.
Eine Weile aß sie stumm und dachte nach.
Allmählich begann ihr das volle Ausmaß ihrer Situation zu dämmern: Das Leben, wie sie es die letzten sechzehn Jahre gekannt hatte, lag für immer hinter ihr.
Für imme r …
Eine große Träne kullerte ihr die Wange hinab.
Sie weinte um ihre Mutter und ihren Vater, um Jade und all die anderen Freunde, die sie nun nie wiedersehen würde, um das Leben, das sie sich immer ausgemalt hatte: dass sie die Julia spielen, die Schule beenden, einen Sommer lang durch Europa oder vielleicht sogar Amerika reisen würde. Danach an die Universitä t – und dann? Karriere machen? Eine Familie? Ein großes Haus an der Küste.
Evan Thoma s …?
Weg. Alles weg.
Das alles war ihr in dem Augenblick genommen worden, als Gabriel an ihrem Krankenhausbett aufgetaucht und sie ihm gefolgt war.
Im Geist sah sie das leere Bett vor sich, die zerknautschte, zurückgeschlagene Decke. Die Krankenschwestern, die das Krankenhaus nach ihr absuchten, sie aber nicht fanden. Die Gesichter ihrer Mutter und ihres Vaters, die von Trauer gezeichnet waren. Sie hatten ja keine Ahnung, was mit ihr geschehen war. Wie sollten sie auch? Bestimmt waren sie außer sich vor Sorge.
»Mu m …«, flüsterte Tania. »Da d …«
»Tania, spielst du ein Duett mit mir? Ich kann dir deine Laute bringen lassen.« Das war Zara.
Gedankenverloren blickte Tania hoch und starrte ihre Schwester verstört an.
»Unser Vater hätte gern, dass wir etwas für ihn spielen«, erklärte Zara.
Tania erhob sich. »Nein«, sagte sie und schob den Stuhl zurück. »Es tut mir leid, ich kann nicht.« Sie stolperte zur Tür und trat hinaus in den Korridor. Sie musste an die frische Luft, musste allein sein. Denn sie brauchte Zeit, um nachzudenken.
Sie war auf halbem Weg in ihr Gemach, als sie plötzlich innehielt. Das Tageslicht schwand rasch und in den Wandhalterungen flackerten bereits Kerzen.
»Ich muss zurück nach Hause«, sagte Tania laut. »Ich muss Mum und Dad wiedersehen.«
Aber wie?
Sie wusste, dass sie die Gabe hatte, sich zwischen den Welten zu bewegen, aber bislang konnte sie ihre Abstecher in die Welt der Sterblichen nicht kontrollieren und war daher höchst beunruhigt gewesen. Ob es irgendeine Möglichkeit gab, willentlich zurückzukehren und ihre Fähigkeit zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen?
»Vielleicht fällt mir etwas ein, wenn ich zu dem Ort zurückgehe, den ich hier als Allererstes gesehen habe«, murmelte sie. »Einen Versuch ist es wert.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte los, während sie ihr Gedächtnis durchforstete und versuchte sich an den Weg zu erinnern, den sie anfangs mit Gabriel gekommen war.
Dann fiel es ihr ein: Sie musste zur weißen Brücke.
Sie rannte zu einem Fenster, aber es ging nach Norden auf den Garten hinau s
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