Elfenschwestern
Bewegungslosigkeit: Ja, vielleicht war es das Bild der Emma Swanscot, das Lily am deutlichsten in Erinnerung bleiben sollte.
Das blasse blonde Mädchen saß so weit von Lily entfernt, dass sie nicht mit ihm reden konnte, aber doch so nah, dass Lily deutlich sah, wie es den Abend verbrachte. Schweigend, den Blick auf den Teller gerichtet, die Hände zwischen den Gängen im Schoß gefaltet. Es redete mit niemandem und niemand an der Tafel redete mit ihm.
Dafür überschlugen sich die Kellner mit Aufmerksamkeiten. Die zierliche Blonde saß nie auch nur für eine Sekunde vor einem halb leeren Glas, sie bekam zu den Gängen immer auch ein paar leise freundliche Worte serviert und zum Dessert lagen neben ihrem Schokoladensoufflé mehr Erdbeeren als auf allen anderen Tellern. Als Lily das kleine Lächeln sah, das sich bei dem Anblick der gezuckerten roten Früchte auf das blasse Gesicht stahl, war sie den Kellnern regelrecht dankbar.
Sobald die Tafel aufgehoben wurde, bahnte sich Lily ihren Weg entschlossen durch die Menge der Fey. Sie sah den sandblonden Schopf vor sich verschwinden und dann nahe der Wand wieder auftauchen. Das Mädchen machte den anderen Gästen Platz.
„Hallo“, sagte Lily, als sie die kleine Blonde erreicht hatte. „Ich bin Lily. Wer bist du?“
Das Mädchen reagierte überhaupt nicht. Erst als Lily es eine Weile aufmunternd angeschaut hatte, rief es erschrocken: „Oh, du meinst mich!“ Dann blinzelte es: „Du meinst mich?“
„Sicher. Bist du auch neu hier?“
„Neu?“
„Na, du weißt schon.“ Lily hob die Achseln. „Zum ersten Mal in dieser illustren Gesellschaft oder so. Meine Schwester Rose und ich kennen hier eigentlich noch niemanden, weißt du.“
„Nein“, sagte die Blonde langsam. Sie hatte einen munteren kurzen Krauskopf und eine Stupsnase mit einem Sternschnuppenschwarm Sommersprossen quer über dem Rücken. Nur ihr scheues Verhalten passte nicht zu diesen kecken Attributen. „Ich bin nicht neu. Ich werde schon mein ganzes Leben lang zu diesen Veranstaltungen eingeladen. Feste im Frühling, Besuche auf den Landgütern im Sommer, Reitturniere im Herbst, Bälle im Winter. Der Name Lady Emma Swanscot steht immer auf der Gästeliste. Ich bin überall dabei.“
„Ehrlich?“ Lily war überrascht. „Macht es dir denn Spaß? Also ich weiß, es geht mich nichts an, aber mir schien, dass du dich irgendwie nicht so amüsierst.“
„Das hast du gemerkt?“, fragte die andere leise.
Lily wollte nicht sagen: Ich denke, das konnte jeder merken! Also nickte sie nur und sagte stattdessen vorsichtig: „Ich frage mich nur, warum das so ist.“
Da seufzte Emma. „Es tut mir fast leid, dich aufzuklären“, gestand sie, „du scheinst nämlich sehr nett zu sein. Aber wenn ich es dir nicht sage, sagt es dir bald ein anderer.“ Mit diesem Satz hob sie ihre Arme, strich sich mit beiden Händen die krausen Löckchen zurück und zeigte auf ihre kleinen hübschen Ohren mit den runden Muscheln. „Ich bin ein Mensch.“
„Und?“, platzte Lily, ohne nachzudenken, heraus.
„Na ja.“ Emma ließ die Hände sinken und das Kraushaar sprang ihr wieder nach vorne ins Gesicht. „Um hier dazuzugehören“, Emma machte eine Handbewegung, die den sich langsam leerenden Speisesaal, ganz Englefield Park oder auch noch mehr einschließen konnte, „musst du erstens von adeliger Geburt sein und zweitens ein Fey. Mein Vater ist ein Herzog, besser geht es nicht, deshalb werden wir auch immer zu allen Veranstaltungen gebeten. Aber er ist ein Mensch. Mein Bruder ist ein Mensch. Und ich bin ein Mensch. Also laden sie uns zwar ein, ignorieren uns aber, so gut sie können.“ Sie schenkte Lily ein etwas wackeliges Lächeln. „Sie können es ziemlich gut. Heute ist es allerdings besonders schlimm, weil Robert noch nicht hier ist. Robert ist mein Bruder“, erklärte sie. „Und bis er kommt“, sie zuckte die schmalen Schultern, „redet eben niemand mit mir.“
„Doch“, sagte Lily hitzig. „Ich.“
Emma betrachtete sie besorgt. „Du“, sagte sie, „mach das nicht. Auch wenn ich mit niemandem spreche, höre ich ziemlich viel. Ich weiß, dass du eine der unehelichen Töchter Lord Grays bist, von denen bis vor Kurzem niemand etwas wusste. Und Halbelfen mögen die hier nur wenig lieber als Menschen. Wenn du nett zu mir bist“, sie schluckte, „verdirbst du dir deine Chancen. Ich bin hier so etwas wie das schwarze Schaf.“
„Das ist mir egal“, fauchte Lily. Sie fühlte plötzlich, wie sie
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