Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin - Paradigi, J: Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin
Kost. Ein Schlückchen Blut würde ihr vielleicht helfen, diesen ganzen schrecklichen Ausflug zu vergessen. Und je länger der Abend dauerte, desto öfter schweiften ihre Gedanken ab, während die Männer sich mit ihrem Wissen über Mythen und Legenden zu übertrumpfen versuchten. Der Amerikaner war Robert auf diesem Gebiet haushoch überlegen. Seine Kenntnisse beeindruckten Anne mehr als sein großmännisches Auftreten, denn er kam der Wahrheit oft näher als die meisten anderen sogenannten Experten.
Als das Wort
Vampir
fiel, zuckte sie unwillkürlich zusammen.
»Was meinen Sie, können die Nosferatu fliegen?«, fragte Tanner an Anne gewandt.
»Sie wollen wissen, ob glatzköpfige Männer mit spitzen Ohren und Glupschaugen sich durch die Lüfte bewegen können? Ausgerechnet von mir?« Anne lachte, nippte an ihrem Glas und nahm den letzten Tropfen, der am Rand hing, mit ihrer Zungenspitze auf. »Für solche Geschichten ist wohl eher mein lieber Robert zuständig.«
Sie sah den bewundernden Blick ihres Freundes. Hatte er wieder einmal vergessen, dass sie kein Mensch war und deshalb keine menschlichen Gefühlsregungen kannte? Zur Tarnung hatte sie ihr Wesen bereits unzählige Male verleugnen müssen und tat dies, ohne sich sonderlich in ihrer Ehre verletzt zu fühlen. Die Frage blieb allerdings, warum sich Tanner ausgerechnet bei diesem Thema auf sie fixierte. Wenn es kein Zufall war, hatte ihr ganzes Treffen wahrscheinlich einen verborgenen Grund. Vorsichtshalber ging Anne in Lauerstellung und fokussierte ihre Sinne.
»Soweit ich weiß, hat man den Vampiren diese Fähigkeit erst in Filmen angedichtet«, antwortete Robert vage.
Tanner interessierte seine Meinung offensichtlich herzlich wenig. Er hielt seinen Blick weiterhin auf Anne gerichtet, als er konterte: »Dann ist Ihnen die sprachliche Herkunft des Wortes wohl entgangen. In der Ukraine war der mit dem Vampir verwandte Begriff Upir gebräuchlich, wobei sich die Silbe
pir
als
mit Flügeln oder Federn ausgestattetes Wesen
übersetzen lässt. In Schriftdokumenten taucht um 1047 nach Christus ein ominöser Fürst namens Upir Lichy von Nowgorod auf. Noch heute gibt es in dieser westrussischen Gegend Dörfer, deren Bewohner sich damit brüsten, von Vampiren abzustammen. Allerdings bin ich sicher, dass die Urväter – oder Urmütter – dieser zweifelsohne existenten Rasse bereits weit vor jener Zeit auf der Erde wandelten.«
»Was genau meinen Sie?«, fragte Robert sichtlich irritiert. »Dass es Blut trinkende Neandertaler gegeben hat?«
Der Amerikaner lächelte nachsichtig. Beiläufig zog er ein Medikamentendöschen aus der Jacketttasche, nahm eine Pille heraus und spülte sie mit einem Schluck Wein hinunter. »Mein Interesse gilt der Mythologie, nicht der Anthropologie«, erwiderte er. »Die Wissenschaften, wie sie an den Universitäten gelehrt werden, gehen mir zu eindimensionale Wege. Ja, sie scheinen wahre Angst vor allem zu haben, was mit dem sogenannten Übernatürlichen zusammenhängt. Aber damit entfernen sie sich von dem, was die einfachen Menschen schon früher von klein auf gelernt haben. Etwas, das ihnen in jener Zeit oftmals das Überleben gesichert hat. Bei den Griechen zum Beispiel gibt es noch heute den Volksglauben an dämonische – meist weibliche – Bestien, die junge Männer betören, um ihnen anschließend die Kehlen aufzureißen und das Blut zu trinken.«
Er spielte auf die Lamien an, wusste Anne. Sagengestalten, die nach Poseidons Tochter Lamia benannt worden waren. Dieses Gespräch begann gefährlich zu werden, zumindest für Tanner.
Lamia war eine Muse ähnlich wie Anne, die ihren Schützlingen ihre besonders fein ausgeprägten Sinne übertrug. In den Geschichten erzählte man sich deshalb unter anderem, dass sie ihre Augen aus den Höhlen nehmen konnte. Die wirkliche Bedeutung dieser Metapher war über die Jahrhunderte weitestgehend verloren gegangen. Und genau wie Anne besaß Lamia eine zweite, vampirische Seite. Provozierte Tanner also ganz bewusst?
Angestrengt forschte Anne nach einem möglichen Motiv, während sie scheinbar ungerührt mit ihrem Finger einen letzten Rest Schokoladensauce vom Dessertteller tupfte. War er ein Bote der Dunklen Frau? Wohl nicht. Einer von Bandorchus Lakaien hätte sich ihr auf andere Weise offenbart, um sie an die Abmachung zu erinnern. Und Fanmór? Der würde wohl kaum einen Menschen schicken, um sie aufzuhalten. Es ergab überhaupt keinen Sinn, sie ausgerechnet in diesem Niemandsland abzufangen.
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