Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin - Paradigi, J: Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin
dahinter liegendem stufenförmigem Tempel frei. Gelbe und rosafarbene Glockenblumen wuchsen büschelweise zwischen den Halmen und gaben ein leises Bimmeln von sich, wenn sie von einem Windhauch hin und her geschaukelt wurden. Nadja sah keinen Wächter oder sonst eine Person. Die Tür zum Heiligtum stand offen.
Die Journalistin wollte schon darauf zugehen, da verstellten ihre Begleiter ihr den Weg.
»Bedenke, wo du bist«, sagte die Kuh mit der Milchschnauze.
»Und erfülle die Pflichten eines wahrhaft Gläubigen«, sagte die andere.
»Sonst kann der Gottesdienst nicht beginnen …«
»… und keine Frage an Kamadhenu gestellt werden.«
Nach diesen Worten nickten die beiden erst Nadja, dann sich gegenseitig zu und trabten sichtlich zufrieden zur Seite.
Grübelnd fuhr sie sich durch die Haare und trat einen zögerlichen Schritt auf den Tempel zu. Sie hatte keine Ahnung, was die Pflichten eines wahrhaft Gläubigen sein sollten. Religiös war sie nicht, und indische Rituale kannte sie höchstens aus Dokumentationen oder Spielfilmen im Fernsehen. Hinduismus, Buddhismus, Sufismus – dazu hatte sie Klischeebilder im Kopf: Tanzende Derwische, Mönche in orangefarbenen Kutten, riesige Scheiterhaufen, auf denen die Toten verbrannt wurden, Papierlampions, die als Opfergabe in den Himmel entschwebten oder den Ganges hinabschwammen. Kühe galten als heilig, aber von einer Kuhgöttin oder Kuhtempeln hatte Nadja noch nie etwas gehört.
Langsam ging sie auf den Eingang zu und versuchte die Sache wie eine professionelle Journalistin anzugehen. Ihr Blick glitt über den Bau, die Fresken, Malereien und Schnitzereien an den Wänden und den Säulen, die das schmale Vordach hielten. Neben Ackerszenen registrierte sie eine Stierfigur und identifizierte die Statue im Schneidersitz mit den vier Armen als Gott Shiva – eine der drei Manifestationen des Höchsten. Soweit sich Nadja erinnerte, stand er für Zerstörung und Neubeginn. Aber diese Erkenntnis half nichts, weil sie nicht wusste, wie man Shiva rituell verehrte und ob er für Kühe etwas bedeutete.
Nadja zermarterte sich das Hirn, dachte an Opfergaben, Räucherstäbchen, Früchte, Reiskugeln, Münzen und Blüten. Sollte sie eine der Blumen pflücken? Oder war gerade das ein Frevel?
Während sie die zwei Stufen hinauf zur Terrasse ging, konnte Nadja einen ersten Blick ins Innere werfen. Es war verhältnismäßig dunkel. Einzige Lichtquellen des Tempels waren meterhohe Kerzen, die in Schälchen mit Sand auf dem Boden standen. Links und rechts war der Raum in kleinere Nischen geteilt, die an Stallboxen erinnerten. Doch statt Tieren standen allerlei Gaben auf Tischen und Kisten gestapelt. Und im Altarbereich, wo sonst vielleicht eine Buddhafigur gestanden hätte, thronte eine überlebensgroße, fettleibige Kuh – sitzend und mit grotesk zu einem Lotossitz verknoteten Hinterläufen. Ihr Fell war schneeweiß, die Schnauze samt Augenrändern zartrosa. Zwei mächtige elfenbeinfarbene Hörner ragten leicht nach innen gebogen über den Kopf hinaus, wohingegen ihre langen faltigen Ohren schlaff seitlich herabhingen. Um den Hals trug sie ein besticktes Band mit Glöckchen am Ende und auf der Stirn ein reich geschmücktes Diadem.
Unschlüssig blickte Nadja zurück zu ihren kleinen Begleitern. Doch die Miniaturkühe schienen das Interesse verloren zu haben, sie standen mit gesenkten Köpfen auf der Wiese und grasten gemütlich. »Dann also allein und spontan improvisiert wie immer«, sagte Nadja leise zu sich selbst und wollte eintreten.
Ein plötzliches Gefühl ließ sie innehalten! Sie … hatte etwas vergessen, oder? Ihr Blick fiel auf eine auf Kniehöhe angebrachte Rolle seitlich neben dem Türrahmen. Es war ein an einer senkrechten Stange frei drehbares Rundstück mit Schriftzeichen, die aus Gold gemalt zu sein schienen. Einer Eingebung folgend, streckte Nadja ihre Hand aus und schob das Holz so an, dass es sich gegen den Uhrzeigersinn drehte. Und wie zur Bestätigung strich im gleichen Augenblick etwas zärtlich über ihre Seele. Eine innere Berührung – warm und voller Liebe.
Seid ihr das?
, fragte sie stumm an die weidenden Kühe gewandt. Die Antwort war ein gefühltes Schmunzeln.
Nadja blickte auf die Kuhgöttin im Tempel. Doch die schien sie bisher nicht einmal bemerkt zu haben und widmete sich gerade einem saftigen Büschel Gras aus einem Weidenkorb neben sich. Und plötzlich wusste sie, wer da mit ihr sprach.
Du bist es?
Tief berührt strich sie über ihren gewölbten
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