Elfenzeit 2: Königin des Schattenlandes - Thurner, M: Elfenzeit 2: Königin des Schattenlandes
Seine Armstummel baumelten sinnlos herab, sein Gleichgewichtssinn schien gestört, und Phantomschmerzen machten sich bemerkbar. Der Monolith hatte einen inneren Durchmesser von vielleicht zwanzig mal dreißig Metern und war in etwa fünfzig Meter hoch. In lichter Höhe krochen seltsame, mehrgliedrige Gestalten wie Spinnen umher. Sie werkelten unermüdlich an Verbesserungen und Verschönerungen des Innenraums. Permanent sprühte feiner Nebel herab; das sichtbare Abfallprodukt ihrer Fräsarbeit.
Nahe dem Tor drückten sich die Getreuen der Königin eng an eng. Sie neideten sich den geringsten Freiraum, rempelten einander an und stritten lautstark. Bandorchu ließ ihnen ausreichend Platz zum Überleben. Nicht mehr. Sie selbst hingegen beanspruchte den größten Teil der Zitadelle. Nun – wer wollte es ihr verdenken? Der Monolith war ihr ureigenstes Bauwerk; aus ihr selbst gewonnen, Stein gewordene Substanz. Wenn es ihr gut ging, profitierten auch ihre Untergebenen davon.
Zwei gebückt dastehende Wächter öffneten die zweiflügelige Ausgangstür. Verhasstes Licht warf seine Strahlen ins Innere, zerteilt von grässlichen Schatten. Das Tor war so niedrig, dass sich Gofannon ducken musste, um es zu passieren. Geblendet hielt er einen Armstummel vors Gesicht. Die Hitze trieb ihm augenblicklich Schweißperlen auf die Stirn.
Angst erfüllte ihn. Sie legte sich wie ein schweres Gewicht auf seine Schultern. Nur mit äußerster Anstrengung brachte er seine Beine dazu, sich vorwärts zu bewegen, ein weiteres Mal in die Helligkeit hinauszumarschieren.
»Erinnerst du dich endlich an den Kau?«, rief ihm sein ehemaliger ... Partner entgegen. »Hast wohl die letzten paar Tage in Luxus geschwelgt, dir einen Bauch angefressen und dich mit Artgenossinnen vergnügt, nicht wahr?« Seine Stimme wurde greller, aggressiver. »Ist ja nicht notwendig, dich um den Kleinen zu kümmern, der dir das Leben gerettet hat. Der Kau ist es nicht wert, einen einzigen Gedanken an ihn zu verschwenden. Soll er doch draußen verglühen im Licht der Sonne, soll er wieder versteinern, nicht wahr?«
»Halt dein Schandmaul!«, sagte Gofannon müde. Er wollte so rasch wie möglich zurück in das wunderbare Halbdunkel der Zitadelle. Das Genörgel des Kau schmerzte und verletzte ihn. »Bandorchu will dich kennenlernen.«
»Ich hab’s nicht so mit den hohen Tieren«, entgegnete der Kleine. Abwehrend schob er beide Hände vor sich. »Es reicht mir, wenn du mich vom Schwur entbindest und mir einen kleinen Platz im Monolithen verschaffst. Ich bin klein und genügsam. Ich hocke mich in eine stille Ecke und verbringe dort die nächsten fünf- oder sechstausend Jahre, bis mir langweilig wird.«
»Die Königin spricht keine Wünsche aus, sondern sie befiehlt«, sagte Gofannon mit Nachdruck. »Du kommst gefälligst mit und tust, was ich dir sage.«
Die breiten Mundwinkel des Kau zogen sich nach unten; Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln, und er warf sich zu Boden, um sich dort wie ein Wurm zu winden. »Entbinde mich zuerst vom Schwur, ich flehe dich an! Gib dem Kau seine Freiheit zurück! Gib mir mein Leben zurück!«
Sein ehemaliger Begleiter wirkte in diesen Augenblicken trauriger als je zuvor. Fast hätte Gofannon Mitleid empfunden; doch seine Stimme klang um eine Nuance
zu
weinerlich, um echt zu wirken. »Ich werde deinen Schwur auf Bandorchu übertragen«, sagte er, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Soll sie darüber entscheiden, was weiter mit dir zu geschehen hat.«
»Oh – sie ist sicherlich eine grausame, eine bittere, eine unnachgiebige Frau. Und überhaupt: eine Frau! Bäh!« Der Kau umarmte Gofannons Beine und leckte ergeben über seine Zehen. »Gib mich jetzt frei, jetzt sofort! Hat dir der Kau denn nicht geholfen, dich gerettet, war er nicht dein bester Freund?« Er richtete sich auf und griff nach seinen Händen – um erschrocken zurückzuweichen, als er die Armstumpen sah, die Gofannon bislang hinter seinem Rücken verborgen gehalten hatte.
Das Entsetzen des Kleinen dauerte nur kurz. Rasch fing er sich wieder. Er kicherte und sagte: »Hast wohl Unzucht getrieben, stimmt’s? Der Vater der Unglücklichen war dagegen, nicht wahr, und hat dir all deine Arbeitsgeräte abgehackt. Darf ich mal in deine Hose schauen ...?«
»Genug!« Gofannon trat zornig nach dem Kau. Der Kleine flüchtete weiter hinaus in die Sonne. »Du hast meine Entscheidung gehört; also folge mir!«
Er marschierte davon, zurück zum einzigen Tor der Zitadelle.
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