Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
»Natürlich musste ich ein wenig zwischen den Fingern hindurchlinsen. Aber ich schwöre dir: Ich hab lediglich auf Julias Busen gestarrt und kein einziges Mal auf den Hintern. Schließlich weiß ich, was sich gehört.«
Es war zum Verzweifeln mit dem Frechdachs. Ich fürchtete, es würde einmal ein schlimmes Ende mit dem halbwüchsigen Knaben nehmen. Der Umgang der ansässigen Adelsgeschlechter miteinander war momentan dermaßen angespannt, dass bereits ein falscher Blick zur falschen Zeit dazu führen konnte, am Pranger oder gar am Galgen zu enden.
Aber ich war auf Morocutti angewiesen. Er war mein geschicktester Spion, und er tat es aus Abenteuerlust.
»Und?«, fragte ich.
»Und was?« Er streckte seinen spitzen Zeigefinger in meine Richtung. »Du scheinheiliger Kerl! Du echauffierst dich, wenn ich die Konventionen ein wenig biege oder breche, bist aber dennoch neugierig wie eine junge Katze.«
»Nun rede!«
»Also schön.« Morocutti wurde ernst, fast andächtig. »Wenn ich du wäre, würde ich mich um die junge Capullo bemühen. Sie hat – wie soll ich es sagen – etwas ganz Besonderes an sich. Es ist nicht nur ihre natürliche Schönheit, sondern etwas, das in ihr ruht. Eine Form altersloser Weisheit, vielleicht auch ein wenig Traurigkeit und Sehnsucht. Julia wirkt so, als suche sie etwas ganz Besonderes. Oder jemand ganz Besonderen.«
Die Corno verbarg meine Ohren, und das zurzeit besonders beliebte Kreidepulver im Gesicht ließ mich aussehen wie einen der Ihren. Meine schwere, brokatbestickte Robe schleifte über den Boden, als ich gesetzten Schrittes die Stufen hinauf zur Villa des Signore Capullo stieg.
Das Haus besaß eine ungewöhnlich breite Vorderfront. Hier, auf der kleinen Insel Mazorbo, waren Land und Grund noch einigermaßen erschwinglich, im Gegensatz zum Wirrwarr der Hauptinseln. Nord- und Westteil lagen uferseitig, die beiden anderen Fronten zeigten zum Land hin.
Mehrere Schlägertypen betrachteten mich mit Missfallen. Doch sie zogen sich zurück, als ich mit einem Tuch wedelte, auf das in goldenen Buchstaben meine Initialen gestickt waren.
»Willkommen, Signore d’Oreso«, sagte ein hutzeliger Alter mit tiefer Stimme, den ich anhand der Beschreibungen Morocuttis als Alfredo, das Oberhaupt der Capullos, identifizierte. »Es freut mich, Euch endlich persönlich kennenzulernen. Ihr hattet schon das Vergnügen mit meinem Neffen, Genove di Tybaglio?«
Ich nickte dem düsteren Gesellen an Alfredos Seite zu und sah dasselbe unheilige Licht in seinen Augen flackern wie schon Tage zuvor in der Ca’d’Oreso. Der Mann wirkte verschlagen – und gefährlich. Er galt als einer der besten Schwertkämpfer der Republik, und er war für seine Grausamkeiten im Zweikampf berüchtigt. Alle meine Elfensinne schlugen augenblicklich an.
»Das bezaubernde Geschöpf zu meiner Seite ist die Signorina Luisa Capullo, mit der ich seit mehr als zwei Jahrzehnten Haus und Bett teile. Und dort im Hintergrund – jetzt trau dich endlich einmal hervor, Kind! – seht Ihr meine einzige Tochter, Julia. Ein Geschöpf Gottes, süß wie kandierte Früchte und unschuldig wie das neue Jahr. Findet Ihr nicht auch, Signore?«
»Ja«, brachte ich mühsam hervor, bevor ich den Blick abwandte. Ein Schock drohte mich zu übermannen, mich augenblicklich zu Boden zu strecken. Denn in dem Moment, da wir uns ansahen, wusste ich, dass
sie
es war. Und das erschrockene Aufblitzen in Julias Augen verriet mir, dass auch sie sich erinnerte.
»Reiß dich zusammen, alter Mann!«, flüsterte mir Morocutti zu. Er nahm mich beim Arm und führte mich zu einem Fenster. »Man munkelt bereits über dich.«
»Sie ist es«, sagte ich benommen, »sie ist es ...«
»Du warst wohl noch nie verliebt, du armer Kerl. Lass dich von dem jungen Gör bloß nicht einwickeln. Wenn Frauen einmal Oberwasser gewonnen haben, ist es vorbei mit Spaß und Freude. Dann wirst du zum Handlanger degradiert und tust nur noch, was sie dir befehlen. Glaube mir, ich habe Erfahrung in derlei Angelegenheiten. «
»... sagte der siebzehnjährige Knabe«, fügte ich schwach lächelnd hinzu. »Aber du hast keine Ahnung, wie lange ich nach diesem Geschöpf gesucht habe. Du kannst es dir einfach nicht vorstellen.«
Tränen schossen mir in die Augen. Meine Emotionen übermannten mich. Diese Julia sah so ganz anders aus als jene, die ich gekannt hatte. Ihr Gesicht wirkte breit und ein wenig talgig, der Mund war klein und gab ihr einen verhärmten Gesichtsausdruck – außer,
Weitere Kostenlose Bücher