Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
wenn sie lachte. Dann ging die Sonne auf, trotz der nächtlichen Stunde, und wohlige Wärme erfüllte mein Herz,
Ihre wachsamen, rehbraunen Augen hatten mich bei allem verfolgt, was ich während der letzten Stunden getan hatte. Beim Tanz mit einsamen, matronenhaften Damen der venezianischen Gesellschaft, beim Geplaudere mit den Finanzjongleuren des Hochadels und beim Gespräch mit Kriegshelden, die sich im Kampf gegen Genua besonders hervorgetan hatten.
Auch ich hatte den Blickkontakt gesucht, wann und wo immer ich konnte. Ihr fülliges blauschwarzes Haar, das im Schein der vielen Kandelaberkerzen glänzte, war nicht zu übersehen, und trotz Julias zierlicher Figur und der geringen Körpergröße fing ich sie mit meinen Blicken wieder und wieder ein.
Wäre Morocutti nicht bei mir gewesen – ich wüsste nicht, welches Fehlverhalten ich mir schon zuschulden gemacht hätte. Ich war ein Fremder in dieser von einem komplizierten Regelwerk geprägten Umgebung, und ich besaß das Aussehen eines Fünfunddreißigjährigen. Wollte ich eine Unterhaltung mit Julia führen, musste ich zuerst ein Privatgespräch mit ihrem Vater suchen und seine Erlaubnis erbitten. Dann durfte ich in Gegenwart einer Amme irgendwo auf öffentlichen Straßen ein paar Schritte mit meiner Angebeteten gehen, selbstverständlich in einem Abstand von mehreren Metern zueinander.
»Auf ein Wort, Signore«, hörte ich eine Stimme hinter mir.
Mühsam sammelte ich meine Gedanken und drehte mich um. »Ja, Tybaglio?«
»Ihr seid Gast im Hause meines Oheims und nicht in dem meinen«, sagte der Mann mit versteinertem Gesicht. »Deswegen steht es mir nicht zu, Euch die Tür zu weisen. Aber lasst Euch eines sagen: Ihr habt mit Euren Blicken meine Cousine beleidigt, und Ihr habt damit auch mich beleidigt. Fast aufgefressen habt Ihr das arme Geschöpf, und es scheint so, als sei sie Euren Grimassen auf den Leim gegangen. Das arme Frauenzimmer bekommt ja auch nur allzu selten
richtige
Männer zu sehen ...«
»Meint Ihr einen wie Euch, Tybaglio?«
»Richtig. Einen wie mich.« Er trat einen Schritt näher, sodass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. »Ich warne Euch, d’Oreso: Glaubt ja nicht, dass Ihr Euch an meinem Cousinchen goutieren könnt. Ich habe Großes vor mit ihr. Sie wird mein Weib werden.«
»Und weiß Julia bereits von Euren Plänen?«
»Ist das wichtig? Ausschlaggebend ist, dass das Kapital der Familie in einer Hand zusammengehalten werden muss. Und ich bin fraglos der Richtige, um die Häuser Capullo und Tybaglio, im Besitz von Bruder und Schwester, wieder zu vereinen.«
»So?« Zorn wuchs in mir. Dieser aufgeblasene Geck maßte sich an, nicht nur über mein, sondern vor allem über Julias Schicksal zu bestimmen! »Mein junger Freund: Eure Meinung ist für mich nicht von sonderlich großem Interesse. Es kommt, was kommen wird. Und seid versichert, dass ich es gewohnt bin, meinen Willen durchzusetzen. Doch jetzt entschuldigt mich bitte. Ihr stinkt genauso wie der aufgeblähte Gockel, der mir gestern im Hühnerstall meines Fleischhändlers begegnet ist.«
Schon im nächsten Augenblick, da ich Seite an Seite mit meinem Burschen Morocutti davonstolzierte, hätte ich mich ohrfeigen können. Ich hatte eine denkbar schlechte Wortwahl getroffen. Aus einem Gegenspieler war durch meine Unbedachtheit binnen weniger Sekunden ein Todfeind geworden.
Noch während ich mich über mich selbst ärgerte, ließ ich einen weiteren Fehler zu: Ich unterschätzte Tybaglios Zorn.
»Na wartet!«, hörte ich seine Stimme, und bevor ich reagieren konnte, war er über mir. Der Dolch glänzte in seiner Hand, und ich sah Tybaglios Willen, zuzustechen, mir die Klinge in den Rücken zu rammen ...
... als sich Morocutti mit allem Mut der Welt zwischen uns warf, dem Signore mit der hochgerissenen Handkante die Waffe aus der Hand prellte und ihn mit einem mächtigen Tritt zwischen die Beine zu Boden schickte.
Tybaglio jaulte laut auf und krümmte sich vor Schmerzen. In kürzester Zeit bildete sich eine Menschentraube rings um uns. Jemand rief nach einem Arzt. Wildeste Gerüchte machten rasch die Runde, und ein halbes Dutzend Handlanger kam herbeigestürmt.
»Sehen wir zu, dass wir verschwinden!«, raunte mir Morocutti zu und zog mich eilends mit sich.
Ich war noch immer benommen und noch lange nicht wieder Herr meiner Sinne. Ich brauchte frische Luft, musste weg von hier, wollte ich nicht Gefahr laufen, Opfer meiner Verwirrung zu werden.
Der Menschenauflauf nahm
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