Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
mehr als laut gewordene Gedanken. Emotionen schwangen in ihnen mit. Unterschwellige Botschaften, die ich nun erstmals mit voller Wucht zu spüren bekam.
»Was soll ich tun?«, fragte ich verzweifelt. »Ich habe keine Ahnung, wie ich weitermachen soll.«
»Alles bleibt, wie es war.« Pieva flößte mir Wasser ein, denn ich fühlte mich zu schwach dazu. »Du wirst zum Praetor reisen und versuchen, eine friedliche Einigung herbeizuführen. Jetzt, da deine Seele erwacht ist, wirst du mit noch mehr Überzeugungskraft argumentieren – im Gedenken an Estella. Das ist es, was sie bewirken wollte. Du solltest den Römern mit menschlichen Gedanken und menschlichen Emotionen entgegentreten.«
»Ist dies das Geheimnis der Menschen?«, fragte ich ihn. »Dass man zur Selbstaufgabe bereit ist, um ein größeres Ziel zu erreichen?«
»Nur die wenigsten von ihnen denken so. Aber mit Estella hast du eine ganz außergewöhnliche Persönlichkeit kennengelernt.« Der Halbelf betrachtete mich nachdenklich. »Du hast ihre Signale ignoriert. Hast nie bemerkt, wie sehr sie deine Nähe suchte und wie sehr sie dir half, dich in dieser ungewohnten Welt zurechtzufinden.«
»Aber sie war noch ein halbes Kind! Wie hätte ich ahnen sollen, dass sie mich wirklich liebte, wenn ich nicht einmal wusste, wie ...
scharf
Liebe schmeckt?«
Pieva lächelte traurig. »Sie schmeckt nicht scharf, sondern bitter«, verbesserte er mich. »Ich habe Erfahrungen damit gesammelt. Und um auf Estella zurückzukommen: Sie mag jung gewesen sein, aber sie besaß eine alte Seele.«
Ich sprang hoch und stieß den Halbelfen erzürnt beiseite. »Warum hast du mir diese Dinge nicht schon früher gesagt?«, fuhr ich ihn an. »Warum musste ich Estella verlieren, bevor ich sie gewinnen konnte?«
»Weil du sie ohne Seele niemals verstanden hättest. Du
musst
bittere Erfahrungen durchmachen, bevor du weißt, was Menschsein bedeutet. Aber du wirst auch die schönen Seiten des Lebens begreifen; das verspreche ich dir.«
»Jetzt, nachdem sie tot ist?«
»Du wirst vergessen. Nicht sofort und auch nicht während der nächsten Wochen. Aber es liegt in der Natur des Menschen, Schicksalsschläge zu verdauen.«
»Bin ich denn ab nun ein Mensch mit all seinen Schwächen?« Noch immer steckte der abgesetzte, überhebliche Elf in mir, der mit ein wenig Abscheu auf die primitiven Bewohner dieser Welt hinabsah.
Auch wenn es dafür überhaupt keinen Grund gab.
»Jetzt bist du ein Kind zweier Welten«, gab Pieva zur Antwort. »Du hast die Wahl: Betrachtest du deine Existenz mit Zynismus, um die Erde wie die Annuna mit Krieg und Verderben zu überziehen; oder lernst du Demut und hilfst ihnen, ihre eigenen Schwächen zu überwinden?« Er legte mir vertraulich die Hand auf die Schulter. »Du kannst dich entscheiden. Du
musst
dich entscheiden.« Dann verließ er das Haus und ließ mich mit all den quälenden Fragen und dem Schmerz zurück.
Ich lernte die Kraft der Verzweiflung kennen und ohnmächtige Wut. Tränen rannen aus meinen Augen, so lange, dass ich meinte, mein ganzer Körper müsse austrocknen. Ich wollte mich in Gleichgültigkeit zurückziehen, wie es mir als Elf meist gelungen war. Doch das hormonelle Gebräu in meinem Inneren ließ nicht zu, dass ich vor meinen Emotionen flüchtete.
Zwei Tage lang litt ich an Fieber. Das erste Mal in meinem Leben war ich richtig krank. Eine ältere Schamanin kurierte mich mit einem fürchterlich schmeckenden Gebräu. Sie tat es lustlos, und immer wieder trafen mich vorwurfsvolle Blicke.
»Was ist?«, herrschte ich sie an, als ich mich das erste Mal wieder aus eigener Kraft von meinem Lager hochstemmen konnte.
»Estella wollte durch ihr großes Opfer einen
Mann
aus dir machen! Kein schwächliches Geschöpf, das sich in Krankheit und Trauer zurückzieht.« Sie spuckte aus, murmelte ein paar bitterböse Beschimpfungen und verließ schlurfend mein Haus.
Die Druidin hatte recht. Ich durfte mich nicht so gehen lassen. Übermorgen würde ich die Reise nach Aevico antreten, und es gab noch viel zu erledigen. Ich trat vor die Tür, genoss die Wärme der hoch im Himmel stehenden Sonne und streckte mich ihr genüsslich entgegen, wie eine Blume. Das Selbstmitleid konnte warten. Zuvor musste ich den Auftrag einer Toten erfüllen.
Pieva ließ es sich nicht nehmen, mich zu begleiten. Der Halbelf wirkte abgemagert, und Falten, die ich zuvor nicht bemerkt hatte, zerfurchten sein dunkles Gesicht. Binnen weniger Tage schien er alt geworden zu sein.
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