Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
kleine Lichtung gesehen, der wir uns nun näherten. Sie wurde von einem geheimnisvoll glitzernden Teich beherrscht. Myriaden silbriger Fäden zogen sich kreuz und quer. Handtellergroße Spinnen glitten an ihnen entlang. Sie spannen ein ganz besonderes Kunstwerk, in dessen Zentrum der kleine See lag.
Wir hielten an, und Estella ließ meine Hand los. Wieder heulte der Wolf, klagte die Eule. Zwischen den Baumwipfeln hing der Mond, und sein perfektes Ebenbild spiegelte sich auf der Wasseroberfläche.
»Hier ist es gut«, sagte das Mädchen zufrieden. »Setz dich nieder.«
Ich gehorchte, ohne zu wissen, warum. Der Lauf hatte mich ermüdet, und mein Herz schlug wie verrückt.
»Worauf warten wir?«, fragte ich.
»Auf dein Erwachen«, antwortete Estella. »Es kann nicht mehr lange dauern.«
Auf mein Erwachen? Wovon redete sie bloß?
Hinter einem der moosbedeckten Bäume am Rand des Gewässers drang Licht hervor. Ein Leuchttroll streckte mir seine vorwitzige Knollennase entgegen.
Ein Leuchttroll? Hier in der Menschenwelt? Ich wollte es nicht glauben, wollte auf ihn zueilen und ihn auf die Stirn küssen, wie es in der Elfenwelt üblich war ...
Estella hielt mich zurück. »Du hast Glück, einen von ihnen als Geburtszeugen bei dir zu haben«, sagte sie. »Er wird dir helfen.«
Hinter mir hörte ich Rascheln, und ich fühlte die unendliche Traurigkeit, die nur ein Schwarzfaun verbreiten konnte. Dann näherten sich zwei achtendige Volpaciken, die Substanz gewordenen Gestalten verliebter Träumer. Sie rieben ihre Leiber aneinander und glitten gleichzeitig ins Wasser, so sachte, dass sie nicht einmal die Reflexion des Mondes zerstörten.
Eine Traumamsel sang bescheiden vor sich hin. Sie hüpfte aufgeregt von Ast zu Ast und wich dabei mit unglaublichem Geschick dem immer dichter werdenden Netz der Spinnen aus. Eine Sippe von Leuchtkäfern umrahmte eine mehrarmige Glückskobra. Zischelnd erwies sie mir ihre Ehrerbietung. Ich hörte ihr zärtliches Flüstern in meinem Kopf.
»Was soll das alles?«, fragte ich Estella. »Und woher kennst du all diese Wesen aus der Elfenwelt?«
»Ich habe sie nie zuvor gesehen«, antwortete die Druidin. »Aber ich fühlte, dass heute etwas Besonderes geschehen würde. Hier. Und jetzt.«
Pieva trat hinter einem Baum hervor. Er winkte mir seltsam schüchtern zu und verschwand gleich wieder hinter seiner Deckung. Offenbar fühlte er sich unwohl zwischen all diesen Geschöpfen der alten Heimat. Sein Oberkörper leuchtete phosphorn durch die Dunkelheit, wohl ein Erbe seiner Vorfahren.
»Leg dich hin!«, flüsterte Estella. »Es passiert.« Ihr Gesicht wirkte entrückt, und es zeigte eine Glückseligkeit, die ich niemals zuvor bei einem Menschen erblickt hatte.
Ich tat ihr den Gefallen und legte mich ins Moos. Es fühlte sich warm an. In der Nähe plätscherte Wasser eines winzigen Teichzuflusses, und ich hörte das gleichmäßige Stampfen einer Ameisenarmee, die nur knapp an meinem Kopf vorbei durchs Unterholz stapfte.
»Sieh zum Mond«, verlangte Estella mit sanfter Stimme, »und sag mir, was du siehst.«
»Helligkeit«, begann ich zögernd. »Ein zerklüftetes und zernarbtes Gebilde, an den Rändern rot gefärbt. Dann ein paar Äste, die sich im Nachtwind bewegen. Und ... und ...«
»Ja?«
»Schönheit.«
Schönheit. Das Wort echote in mir nach. Immer und immer wieder hörte ich es, sah es, spürte es. Der Begriff füllte mich aus und knabberte an einem Schutzdamm, von dessen Existenz ich jetzt erst erfuhr. Er hatte mein Herz eingebacken wie eine Kruste aus Stein.
Ich sah nichts mehr, war blind geworden. Voller Panik wollte ich mich aufrichten, davonlaufen. Doch jemand hinderte mich daran, drückte mich zu Boden. Ich glaubte, Estella neben mir zu spüren. Ihren süßen Atem, ihre Sanftmut und ihren starken Willen. Da waren auch die anderen Gestalten aus anderen Weltenkreisen. Sie alle saßen rings um mich, schenkten mir Wärme und Zuversicht.
Irgendjemand schrie lautstark. Er brüllte vor Schmerz und Verzweiflung. Es dauerte einige Zeit, bis ich registrierte, dass ich selbst es war. Mein Geist hatte sich vom Körper gelöst. Aus einer abgehobenen Position, nur durch ein dünnes Bändchen mit dem Leib verbunden, registrierte er/ich, was da eigentlich vor sich ging.
Es war die Geburtsstunde meiner Seele.
Sie wirkte so klein und schwächlich. Sie gierte nach Nahrung, und ich wusste nicht, was ich ihr geben sollte.
»Halte durch!«, hörte ich Estellas Stimme. Sie blieb stets bei
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