Elina Wiik - 02 - Sing wie ein Vogel
Schlüssel aus der Tasche.
»Hier.«
Sie nahm ihn entgegen, küsste Olavi auf die Stirn und ging.
32
Zum dritten Mal innerhalb weniger Tage saß Elina im Auto und fuhr auf der E18 in Richtung Stockholm. Diesmal würde sie angemeldet erscheinen.
Obwohl sie schon neun Jahre in Västerås wohnte, fand sie sich in der Hauptstadt mit dem Auto noch gut zurecht. Ihre ersten vierundzwanzig Jahre hatte sie in Stockholm und Umgebung verbracht. Die Familie war häufig umgezogen und hatte in Hägersten, Solna und Vallentuna gewohnt. Während ihres Studiums an der Polizeihochschule hatte sie in einer Einzimmerwohnung in Sundbyberg gelebt. Es gab noch einige weibliche Bekannte in der Stadt, doch die meiste Zeit hatte sie Männern gewidmet, die sie dann später wieder verlassen hatte oder von denen sie verlassen worden war, was häufiger vorkam. Mit keinem von ihnen hatte sie mehr Kontakt. In Västerås war Susanne ihre einzige richtige Freundin. Fast alle anderen Leute, die sie kannte, waren Kollegen.
Vielleicht könnte Nadia auch eine Freundin werden, dachte sie, und ihre Laune besserte sich schlagartig. Sie wunderte sich, wie offen sie ihr gegenüber gewesen war, offener sogar als gegenüber Susanne. Und das obwohl sie sich gerade erst kennen gelernt hatten. Nadia war es gelungen, ihre Abwehrmechanismen auszuschalten, ohne dass Elina wusste, wie.
Als sie an Jakobsberg vorbeikam, musste sie an Martin denken. Das passierte jedes Mal, wenn sie dort vorbeifuhr. Er wohnte in einem gelb gestrichenen Haus mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Ein bewegtes, aber undramatisches Leben, das jäh unterbrochen wurde, als er sie vor vier Jahren auf einer Messe für Sportartikel in Älvsjö getroffen hatte.
Sie hatte ihn am Stand eines großen Schuhherstellers kennen gelernt und erinnerte sich noch genau an ihre erste Begegnung. Er war fast einen Kopf größer als sie und war nach dem Ende seiner Sportlerkarriere aus Liebe zu der Frau in dem gelben Haus in Stockholm geblieben.
Er hatte Elina mit der sanftesten Stimme angesprochen, die sie jemals bei einem Mann gehört hatte. Schon eine Sekunde später wusste sie, dass sie in der Falle saß. Die Trennung von ihm hatte ihr sehr wehgetan. Sie fühlte sich nicht nur seiner Person beraubt, sondern auch der Kinder, die sie von ihm bekommen würde. In ihrer Vorstellung waren sie so wirklich, dass sie sie vor sich sah, wenn sie ihre Gedanken in diese Richtung wandern ließ. Mit goldener Haut, die perfekte Mischung zwischen ihrer Blässe und seinem dunklen Teint.
Sie fuhr über die Tranebergsbrücke und den Fridhemsplan und dann weiter ins Zentrum. Eigentlich war das ein Umweg, aber dieser Weg gefiel ihr besser als der über Norrtull und Roslagstull. Dann bog sie auf den Valhallavägen ein und parkte kurz darauf vor einem großen Gebäude auf dem höchsten Punkt der Banérgatan. Sie war noch nie im Kriegsarchiv gewesen und folgte der Anweisung, die sie am Telefon bekommen hatte. Sie klopfte an eine Tür mit dem Schild ›Archivrat‹. »Herein«, sagte eine klare Stimme. Elina betrat einen luftigen Raum.
»Inga-Lisa Lindmark.«
Die Frau hatte dichte schwarze Haare und zeigte ein breites Lächeln mit vielen Zähnen. Ohne zu wissen warum, gefiel sie Elina sofort. Vielleicht weil sie die innere Ruhe ausstrahlte, die sie in sich selber vergeblich suchte.
»Elina Wiik. Wir haben miteinander telefoniert, Sie wissen also, warum ich hier bin. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen wollen.«
»Setzen Sie sich. Das ist ja wirklich eine aufregende Anfrage. So was veranlasst uns Archivfüchse, unseren Spürsinn einzusetzen. Leider muss ich Ihnen sagen, dass ich nichts gefunden habe, was für Sie von Interesse sein könnte. In dem uns vorliegenden IB-Material gibt es keine Hinweise, wer sich hinter den Decknamen verbirgt. Und manche unserer Unterlagen sind geheim, was nicht automatisch bedeutet, dass Sie keinen Einblick bekommen. Aber jedes einzelne Dokument muss überprüft werden.«
»Was machen wir nun?«
»Ich habe im Forschungssaal im nächsten Stockwerk einige Akten bereitgelegt, die Sie sofort einsehen können. Schauen Sie sie durch und prüfen Sie das Archivverzeichnis der geheimen Akten. Dann teilen Sie mir mit, an welchen Sie interessiert sind.«
»Das klingt prima. Aber glauben Sie, dass ich etwas finde? Sie haben ja schon alles durchgeschaut.«
»Ich weiß nicht, was für Sie von Wert ist. Meine Erfahrung ist, dass ein schlichter Nebensatz der Schlüssel zu dem
Weitere Kostenlose Bücher