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Elli gibt den Loeffel ab

Elli gibt den Loeffel ab

Titel: Elli gibt den Loeffel ab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Hennig
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ein ziemlich großer Sprung. Dieser Gedanke beruhigte ihr schlechtes Gewissen. Immerhin hatte Anja ihr den Brief nun gegeben. Nur das zählte, und was sie da aus der Feder ihrer Mutter las, entpuppte sich als Offenbarung.

    Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll. Du darfst nicht glauben, dass ich Gustav nicht liebe, aber ich schaffe es heim besten Willen nicht, mich Alessandro zu entziehen. Gustav ahnt nach wie vor nichts , und ich bemühe mich, ihn nicht zu vernachlässigen. Ich bin ihm bestimmt eine gute Ehefrau und liebe ihn auf meine Weise. Und ganz sicher möchte ich mich nicht von ihm trennen. Alessandro und ich könnten sowieso nicht zusammenleben. Es sind zwei völlig unterschiedliche Welten, die sich treffen und sich nur für kurze Zeit vereinigen. Wir sind wie zwei Kometen, die sich gelegentlich im All begegnen, und immer wenn sie sich nahe kommen, glüht ihr heller Schweif am Himmel — obgleich nur für kurze Zeit.

    Dorothea musste den Brief kurz aus der Hand legen. Sie saß wie versteinert auf ihrem Bett und starrte ins Leere. So schön konnte Liebe sein? Elisabeth, ihre Mutter, hatte eine poetische Ader in sich gehabt? Der Vergleich mit den beiden Kometen gefiel Dorothea sehr gut. Überhaupt las sich der Brief an Charlotte irgendwie anders als die Stimme, die sie von ihrer Mutter im Ohr hatte. Elisabeth hatte meistens in sehr kurzen Sätzen gesprochen. Im Nachhinein würde sie ihre Mutter sogar als ziemlich einsilbig bezeichnen. Was sie da geschrieben hatte, klang ganz anders.
    Hatte ihre Mutter am Ende tatsächlich zwei Leben, zwei Seelen gehabt? Die brave Hausfrau, die ihrem Vater jeden Wunsch erfüllt, die Ellis und ihre Windeln gewechselt und für sie gesorgt hatte, und zugleich eine Frau von großer Leidenschaft? Hatte Elli ihre poetische Ader am Ende gar von ihrer Mutter geerbt? Wie hatte diese Frau das nur all die Jahre ausgehalten, ein solches Doppelleben zu führen? In der heutigen Zeit war sicher vieles einfacher, aber damals, nach dem Zweiten Weltkrieg — die Welt hatte nun mal anders getickt. Eine Frau, die ihren Mann betrog, war geächtet worden. Man hätte ihr die Kinder weggenommen. An Unterhaltszahlungen wäre nicht zu denken gewesen.
    So sehr Dorothea die Bekenntnisse ihrer Mutter schockierten, so sympathisch und aufregend fand sie das Geschriebene. Zeile um Zeile entspann sich da ein einziges Abenteuer, und am allerbesten war der Schluss des Briefes, den sie immer und immer wieder las.

    Du bist der einzige Mensch, dem ich mich anvertrauen kann. Ein Liebhaber ist eine Sache, aber Alessandro ist weit mehr als nur mein Geliebter. Er ist der Vater von Dorothea! Ich habe Angst, dass Gustav mir eines Tages Fragen stellt.
    Er müsste nur nachrechnen. Letzten Sommer haben wir so gut wie nie das Bett miteinander geteilt. Er war lange krank. Soll ich ihn doch verlassen? Aber wie ich Alessandro einschätze, würde ein Kind alles zerstören, was wir haben. Es geht aber auch um Doro. Gustav würde sich von uns trennen, und ich würde mit ihr alleine dastehen. Ihre und meine Zukunft stünde auf dem Spiel. Doro wäre ein geächtetes Kind. Kannst du mich verstehen? Was würdest du in meiner Lage tun? Bitte antworte mir schnell. Wir fahren bald wieder nach Capri, und ich weiß einfach nicht , ob mich meine Liebe zu Alessandro zu blind und selbstsüchtig macht, um die Angelegenheit richtig einzuschätzen.
    Deine Elisabeth

    Wenn ihre Mutter noch leben würde, dann hätte Dorothea sie jetzt vermutlich umarmt. Der Brief war der Schlüssel zu einem noch viel größeren Tresor. Wenn sie schon ein Bastard war, dann konnte sie sich auch wie einer verhalten. Es war allerhöchste Zeit, Roberto eine höhere Rechnung zu präsentieren. Das spontan Verlockende an dem Gedanken war, dass Elli dabei leer ausgehen würde. Ihre Schwester hatte immer alles im Leben bekommen, was sie sich nur gewünscht hatte. Sie hatte ihr Josef weggenommen. Sie hatte sich bereits die besten Stücke aus ihrem Lebenstörtchen geschnitten, während Dorothea immer nur mit kleinen Brötchen abgespeist worden war. Das Leben war doch gerecht!

    Elli blickte auf den kleinen Reisewecker, der neben ihr auf dem Spind stand. Schon halb acht. Sie musste weggenickt sein. Dabei hatte sie sich so fest vorgenommen, sich nur kurz hinzulegen. Das waren jene Momente, in denen sie die sechzig Jahre, die sie auf dem Buckel hatte, nicht mehr leugnen konnte. Der Ausflug auf hoher See war sehr anstrengend gewesen, aber deshalb hatte sie sich gar

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