Ellin
hättest du alles für ein Dach über dem Kopf, regelmäßige Mahlzeiten und eine anständige Arbeit gegeben. Immerhin stand sie im Dienste der Herrscherin, wie konnte sie da unzufrieden sein?
Wie in jedem Palast, so herrschte auch in Huanaco eine strenge Hierarchie, wobei die Sklaven an unterster Stelle standen. Zwar wurden sie nicht wirklich schlecht behandelt, jedoch längst nicht so gut wie das Gesinde. Beging ein Sklave einen Fehler, so wurde er gezüchtigt. Nicht im gleichen Maße, wie es Lord Wolfhard täte, doch Ohrfeigen oder Tritte waren keine Seltenheit. Zudem verrichteten sie die niederen Dienste, wie Nachttöpfe lehren, Wasser schleppen, die Unterkleidung waschen und Böden schrubben. Sie schliefen gemeinsam in einer großen Kammer und aßen erst, wenn das Gesinde ihre Mahlzeit beendet hatte. Auch war es ihnen, bis auf wenige Ausnahmen, auf das Strengste untersagt, das Badehaus zu benutzen, während das Gesinde zu bestimmten Zeiten die Möglichkeit bekam, in die warmen Fluten zu steigen. Was Ellin jedoch am meisten erstaunte, waren die stummen Leibdiener. Obwohl sie wussten, dass ihnen die Zungen herausgeschnitten wurden, und es ihnen untersagt war, den Bund zu schließen und eine Familie zu gründen, meldeten sie sich freiwillig für diesen Dienst. Die Zeremonie der Zungenentfernung wurde Beschneidung genannt und vor den Augen der Herrscherin und der Bediensteten vollzogen. Auch Ellin musste daran teilnehmen, obwohl es ihr zutiefst widerstrebte. Tapfer und stolz schritt der zukünftige Palastdiener, ein junger Mann, nicht älter als sie selbst, den Gang des Thronsaals entlang, bis er zu einem blauen Teppich gelangte, der zu Füßen der Herrscherin ausgebreitet worden war. Zahllose dunkle Flecken darauf zeigten ihr, wie viele Männer dort schon ihre Zungen verloren hatten.
Der junge Mann kniete sich hin. Die Herrscherin hieß ihn willkommen, versprach ihm Ansehen und Ehre und lobte seinen Mut. Drei Soldaten und ein altes Weib traten auf ihn zu. Er legte den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und streckte seine Zunge hinaus. Ellin bemerkte Schweißperlen auf seiner Stirn und seinen unsteten Blick. Er hatte Angst. Während die Soldaten den Mann umklammerten, bis er sich nicht mehr rühren konnte, kniff die Alte eine Zange in seine Zunge, zog sie so weit wie möglich aus dem Mund und nahm dann einen Dolch zur Hand. Geschickt trennte sie die vordere Zungenhälfte ab und hielt sie hoch, damit alle sie sehen konnten. Jubel erklang, Hochrufe auf den tapferen Mann, der seine Stimme für die Herrscherin geopfert hatte.
Der junge Diener gurgelte. Blut floss aus seinem Mund. Schnell goss die Alte eine klare Flüssigkeit über die Wunde, nahm dann ein Tuch und stopfte es ihm in den Mund. Der Diener verdrehte die Augen und sackte zu Boden. Die Soldaten trugen den bewusstlosen Mann hinaus. Die Zeremonie war zu Ende. Wenn er überlebte, würde man ihm den Kopf rasieren und er durfte seinen lebenslangen Dienst beginnen.
Während der Beschneidung hatte Ellin sich zwingen müssen, nicht wegzusehen und statt anschließend mit den anderen zu feiern, ging sie in den Palastgarten und versuchte, die grausige Zeremonie aus ihren Gedanken zu vertreiben. Mehr denn je sehnte sie sich nach einem vertrauten Gesicht, nach Verständnis und Nähe. Nach Kylian.
Ihr Tag begann sehr früh. Kurz vor Morgengrauen stand sie auf und kümmerte sich um das leibliche Wohl der Gäste. Nach dem Morgenmahl bereitete sie die Gästekammern vor, legte frische Tücher bereit, füllte die Wasserkannen, richtete die Bettstatt und räumte, wenn nötig, ein wenig auf. Zur Mittagszeit hatte sie frei, es sei denn die Palastvorsteherin Tario hatte eine besondere Aufgabe für sie. Gewöhnlich nutzte sie die Zeit für einen Besuch in der Stadt, einen Spaziergang im Palastgarten oder um im Gebetshaus zu meditieren. Am Abend kümmerte sie sich um die Bäder und die Festkleidung der Gäste. Fast täglich wurde sie in die Stadt gesandt, um einer oder allen drei Gesellschafterinnen, die in einem kleinen Haus am Stadtrand lebten, die Nachricht zu überbringen, dass ihre Dienste benötigt wurden. Im Gegensatz zum Gesinde behandelten die Sklavinnen Ellin freundlich und zuvorkommend. Oft tranken sie zusammen einen Becher Mirabeerensaft und unterhielten sich eine Weile. Die Menschen auf der Straße spuckten weiterhin aus oder machten verächtliche Gesten, wenn Ellin die Liebessklavinnen zum Palast begleitete, doch mit der Zeit lernte sie, die Verachtung der
Weitere Kostenlose Bücher