Ellin
Jesh zornig an. »Es steht dir nicht zu, mir Vorhaltungen zu machen. Wärest Du nicht gewesen, befände sie sich jetzt nicht in dieser Lage.«
»Wenn du dich verhältst, wie ein verzogenes Kind, steht es mir durchaus zu«, entgegnete Jesh.
»Hört endlich mit der Streiterei auf«, befahl Nuelia. »Lasst uns lieber überlegen, was wir jetzt tun wollen.«
Ein Donnerschlag zerriss die Stille. Schlagartig öffnete der Himmel seine Schleusen. Kylian ignorierte den Regen. »Was schon? Wir reiten nach Huanaco.«
20
E llin schlenderte an der Palastmauer entlang. Sie liebte es, sich außerhalb der Mauer aufzuhalten und die Aussicht auf die Stadt und die umliegenden Berge zu genießen. Wenn sie ihren Blick über das endlose Grün schweifen ließ, fühlte sie Ruhe und fast so etwas wie Zufriedenheit. In wenigen Tagen würde sie achtzehn Sternenläufe zählen und es stimmte sie traurig, dass niemand hier war, um diesen Tag mit ihr zu teilen. Auf der Felsenfestung würde Affra sicher ihre berühmten Rotbaumnussfladen mit Mirabeerenmus zubereiten und Mathýs würde ihr irgendein seltenes Elexier oder ein Buch schenken. Außer der Sklavin Yasu hatte sie niemanden, mit dem sie auch nur ansatzweise so etwas wie Freundschaft verband und Yasu war nicht frei, was bedeutete, dass sie sich nicht verabreden konnten. Nur wenn Ellin sie besuchte oder sie zum Palast geleitete, hatten sie Zeit für kurze Gespräche.
Eine Staubwolke erregte ihre Aufmerksamkeit. Obwohl sie glaubte, alle Hoffnung auf die Rückkehr der Uthra verloren zu haben, schlug ihr Herz ein wenig schneller. Hoffnungsvoll beschattete sie ihre Augen und spähte in die Ferne. Die Reiter preschten über die Hauptstraße und hielten direkt auf den Herrscherhügel zu. Die Uthra konnten es nicht sein, dafür waren es zu viele. Ellin zählte zwölf Mann. Wider besseren Wissens war sie enttäuscht.
Niedergeschlagen schlenderte sie Richtung Haupttor. Die Schar näherte sich in hohem Tempo, was in Huanaco, wie sie mittlerweile wusste, höchst ungewöhnlich war. Es zeugte von Achtung, wenn man sich dem Palast in gemäßigtem Tempo näherte und damit bekundete, dass man keine schlechten Absichten hegte. Mittlerweile hatten der Trupp den Herrscherhügel erreicht. Ellin beschloss, in den Palast zurückzukehren und die Gästekammern zu überprüfen, bevor Tario sie rufen lassen musste.
Die Berittenen waren nun nahe genug, dass sie erste Einzelheiten erkennen konnte. Ihr Atem stockte. Ungläubig betrachtete sie die Schilde, auf denen unübersehbar Lord Wolfhards Wappen prangte. Wie eine Drohung leuchtete das Antlitz des Felsgreifers auf dem glänzenden Schild, die schwarzen Flügel gespreizt, der Schnabel weit geöffnet. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann in wildem Galopp gegen ihre Rippen zu trommeln. Erschrocken drückte sie sich gegen die Mauer, als hoffte sie, mit ihr zu verschmelzen. Die vecktanische Reiterschar war mittlerweile ganz nah. Zu ihrem grenzenlosen Entsetzen erkannte sie Lord Wolfhard an der Spitze des Zuges. Keuchend rutschte sie an der Mauer hinab und starrte auf den Mann, der sie so sehr zu hassen schien, dass er ihr bis ins ferne Huanaco folgte.
Vielleicht ist er nicht wegen dir gekommen , versuchte sie sich zu beruhigen, doch war das nur ein verzweifelter Versuch, sich etwas vorzumachen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, so sicher, wie sie wusste, dass auf jeden Tag eine Nacht folgte, warum Lord Wolfhard nach Huanaco gekommen war. Und sie konnte ihm nicht entfliehen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde die Herrscherin sie an ihn ausliefern.
Es gab nur einen Ausweg. Sie musste fliehen. Auf der Stelle.
Mit zitternden Knien wartete sie, bis die Reiter das große Tor passiert hatten, nahm dann das rückwärtige Tor, welches das Gesinde benutzte, und huschte Richtung Palast. Im Vorbeigehen sah sie, wie Lord Wolfhard und seine Männer absaßen, dabei waren sie umringt von einer großen Schar Palastwachen, die mit gezücktem Säbel jede ihrer Bewegungen überwachten.
Wenigstens sind sie kein willkommener Besuch, das könnte mir etwas Zeit verschaffen , hoffte sie, während sie durch die Hintertür schlüpfte.
Der Palast war gespickt mit kleinen Gängen und Treppen, die versteckt zwischen den Mauern lagen. Die Herrscherin hatte sie für das Gesinde anlegen lassen, damit sie, sollte sie beschließen durch den Palast zu wandeln, nicht von umhereilenden Dienstboten gestört wurde. Ellin hastete in die vierte Ebene hinauf und rannte durch
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