Ellin
sie an. »Das ist also der Grund, warum er danach trachtet, sie in seine Finger zu bekommen. Er will das Land haben.«
Nosara nickte und strich mit den Fingerspitzen über seine Wange. »Du siehst, wenn du meinen Auftrag erfüllst, sorgst du nicht nur dafür, dass Ellin am Leben bleibt, sondern verhilfst ihr auch zu ihrem Recht.«
»Dann sagt mir, was ist Euer Auftrag, Gebieterin?«
»Töte meinen Bruder!«
Entsetzt riss er die Augen auf. »Herrin, das ist Wahnsinn.«
»Nein, das ist Vernunft. Kismahelia und Huanaco müssen wieder vereint werden, nur so werden wir eine Großmacht sein, vor der andere Länder erzittern. Und was ist besser, als eine bedeutende Herrscherin, die das Land in eine glorreiche Zukunft führt?«
»Euren Bruder zu töten ist Selbstmord.«
Gleichmütig zuckte Nosara mit den Schultern. »Du bist schnell und geschickt. Wenn es jemandem gelingt, dann dir.«
Er senkte den Kopf, sackte förmlich in sich zusammen. »Darf ich Ellin noch einmal sehen?«
»Nein. Ich bestehe darauf, dass du dich umgehend auf den Weg machst, denn ich möchte vermeiden, dass Gerüchte noch vor dir meinen Bruder erreichen. Ich lasse ein Schreiben aufsetzen, damit du auch sicher eine Audienz bei ihm erhältst.«
Kylian verneigte sich, zum Zeichen seines Einverständnisses, erhob sich und verließ die Kammer.
Zufrieden betrachtete sich Nosara in der Vanadiumscheibe an der Wand. Ihr Gesicht strahlte wie die aufgehenden Wintersonnen. Die Tatsache, dass Ellin geflohen war, erschien ihr kaum einen Gedanken wert. Kylian würde es nie erfahren. Und Lord Wolfhard würde sie erzählen, dass sie ihre Söldner ausgeschickt hatte, um das Mädchen zu finden. Damit konnte sie ihn sicher eine Weile hinhalten. Und wenn er irgendwann beschließen sollte, die Heimreise anzutreten, würde sie tatsächlich Soldaten ausschicken, um Ellin vor ihm zu finden. Auf diesem Weg bekäme sie ein Unterpfand, welches sie gegen die Uthra und gegen Lord Wolfhard einsetzen konnte. Ihr melodisches Lachen hallte durch den Saal, ein Laut, den die Bediensteten sehr selten zu hören bekamen. Alles verlief ganz in Nosaras Sinne.
22
E llin und Yasu irrten ziellos umher und lebten in ständiger Angst vor Entdeckung. Doch waren es keine etwaigen Verfolger, die sie in Gefahr brachten, sondern der Dschungel selbst. Unter jedem Blatt, so schien es Ellin, lebte irgendein seltsames Tier. Schon am ersten Tag wurden sie von haarigen Viechern gejagt, mit spitzen Stoßzähnen und tellergroßen Unterkiefern. Im allerletzten Moment erklommen sie einen Baum, von dem aus sie sich über einen Bach an das andere Ufer retten konnten. Am Morgen des zweiten Tages streiften sie grünweiße Blätter, wonach sie einen brennenden Ausschlag bekamen, der stundenlang anhielt. Ein anderes Mal wurden sie nachts von einem Stechlingschwarm überfallen, der sie in einer summenden Wolke umschwärmte. Sie retteten sich, indem sie von dem Baum sprangen und kopflos in den nächsten Tümpel stürzten, ungeachtet der Gefahren, die dort lauern mochten. Am Abend des vierten Tages wurde Yasu von einem rindenfarbenen Käfer gebissen, der aussah wie ein winziger, fetter Wurm. Der Biss, der sich genau zwischen Zeigefinger und Daumen befand, blutete kaum, schmerzte jedoch heftig. Ellin legte in kühles Wasser getränkte Tücher darauf. Mit Unbehagen erinnerte sie sich an Butans Biss und hoffte inständig, dass der Käfer nicht giftig gewesen war. Doch allem Anschein nach war er es. Yasus Zustand verschlechterte sich so rapide, dass Ellin angstbebend an ihrer Seite weilte und jede Regung sorgenvoll zur Kenntnis nahm. War Yasu schon immer blass gewesen, so war sie nun bleich wie ein Salzstein und schwitzte stark. Am Abend klagte sie über Übelkeit und übergab sich mehrere Male, bis sie nur noch eine gelbliche Flüssigkeit hervorwürgte. Anschließend schlief sie erschöpft ein.
Die ganze Nacht hindurch lauschte Ellin auf Yasus Atem und tastete nach ihrem Puls. Am nächsten Morgen erwachte die Sklavin und fühlte sich zu Ellins großer Erleichterung besser. Die sorgenerfüllte Nacht hatte ihr verdeutlicht, wie sehr sie sich an Yasus Anwesenheit gewöhnt hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie jemanden, der verstand, was sie fühlte und ihre Hoffnungen und Wünsche teilte. Sie zwang Yasu, etwas zu essen und beäugte währenddessen die Umgebung. Zu den Gefahren des Waldes hatte sich das unbestimmte Gefühl des Beobachtetwerdens gesellt. Es war nicht so, dass sie jemals Menschen oder auch nur
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