Ellin
Eiszapfen bohrte sie sich in ihre Wade, wühlte sich durch ihr Fleisch, bis fast zum Knochen. Obwohl sich ein unsäglicher Schmerz durch ihr Bein fraß, warf sie sich herum. Keine Sekunde zu früh, denn schon war das mordgierige Vieh über ihr. Es taumelte ein wenig, während es versuchte, seinen Schnabel in ihre Brust zu stoßen. Mit aller Kraft rammte Ellin das Messer in das Auge der Bestie. Bis zum Heft drang es in den Schädel ein. Der Vogel krächzte schrill, flatterte herum und zuckte unkontrolliert, bis er schlagartig verstummte und starb. Angewidert schob Ellin den Kadaver von ihren Beinen und sackte dann erschöpft zurück.
Alles war ruhig, der Kampf vorüber. Sie war schweißgebadet und in ihrer Wade pochte ein eiskalter Schmerz.
»Ellin.« Jemand rief ihren Namen. »Ellin, was ist mit Euch?«
Sie öffnete die Augen und blickte in Kylians Gesicht.
»Es geht mir gut«, wisperte sie.
Er ging neben ihr in die Knie und begann, ihr Bein zu untersuchen. Ein scharfer Laut entfuhr ihr, als er ihre Wade berührte.
»Eine Feder hat Euch getroffen«, stellte er fest.
»Ach was«, zischte sie.
Er ignorierte ihren Sarkasmus. »Ich muss sie entfernen.«
Ellin hatte das Gefühl, als würde sich Säure durch ihr Fleisch fressen. »Beeilt Euch«, stieß sie hervor.
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Butan und Nuelia die toten Stymphaliden in die braune Brühe warfen. Jesh war nirgendwo zu sehen. Kylian rannte zum Wagen. Als er wieder kam, rief er Butan herbei und beauftragte ihn, Ellins Bein festzuhalten.
Ellin krallte die Hände in den Boden und stöhnte laut. Der Schmerz in ihrem Bein war unerträglich. »Bitte. Holt endlich dieses Ding aus mir heraus.«
Butan umklammerte ihren Schenkel, während Kylian ihre Wade mit einer trüben Flüssigkeit übergoss, die auf der Haut brannte und ihr ein weiteres Stöhnen entlockte.
»Tut mir leid, es muss sein. Ihr wollt doch nicht, dass die Wunde brandig wird«, erklärte Kylian.
Beherzt machte er sich daran, die Feder aus ihrem Fleisch zu pulen. Der Schaft war hauchdünn, kaum dicker als ein Faden, doch die Federn daran waren mit winzigen Widerhaken versehen, die sich an ihr Fleisch klammerten und sich nur mit großer Mühe entfernen ließen. Hochkonzentriert löste Kylian Feder für Feder aus ihrem Fleisch. Um ihre Schmerzensschreie zu ersticken, biss Ellin in den Ärmel ihres Nachtgewandes. Unendlich lange, so schien es ihr, stocherte er in ihrer Wade herum. Tränen tropften aus ihren Augen und versanken im Moos, vermischten sich mit ihrem Schweiß.
»Geschafft«, war das Letzte, was sie hörte, bevor sich ihre Sinne trübten und sie in gnädige Bewusstlosigkeit versank.
11
S anftes Licht fiel durch die Plane in das Innere des Wagens, als Ellin die Augen aufschlug. Neben ihr lag Jesh und schlief. Seine Schulter war mit einem sauberen Leintuch umwickelt, welches einen angenehmen Geruch nach Heilkräutern verströmte. Sie hob den Kopf und sah nach ihrem Bein. Ihre Wade war ebenfalls verbunden. Langsam setzte sie sich auf und wartete auf den stechenden Schmerz, der jedoch nicht kam. Verwundert berührte sie ihren Unterschenkel. Sie spürte die Berührung, also war ihr Bein nicht taub. Neben ihrer Schlafstatt entdeckte sie einen Becher Wasser sowie den Stock, auf den sich Geldis normalerweise stützte. Sie trank gierig, anschließend versuchte sie, sich auf die Beine zu stemmen, was ihr den Umständen entsprechend mühelos gelang. Sie war sogar in der Lage, aufzutreten, wenn auch nur kurz, bevor ein scharfer Schmerz sie mit Nachdruck an die Wunde erinnerte.
Draußen warteten Geldis, der es wieder besserzugehen schien, sowie Kylian, Butan und Nuelia. Sie saßen um das Lagerfeuer herum und reinigten ihre Schwerter von den Spuren des Kampfes. Nuelia sprang auf und half ihr, aus dem Wagen zu klettern. »Wie geht es Euch?«
»Es geht mir unerwartet gut, danke.«
Nuelia nickte zufrieden. »Geldis hat Euch etwas gegen die Schmerzen gegeben. Doch die Wunden der Federn sind allem Anschein nach nur anfänglich sehr schmerzhaft, heilen aber schnell und verursachen später vergleichsweise geringes Leid. Scheinbar dienen sie nur dem Zweck, die Beute vorübergehend wehrlos zu machen.«
Am Lagerfeuer reichte Geldis ihr einen Gerstfladen und einen Apfel. Ellin bedankte sich und verschlang das Essen hungrig.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie zwischen den Bissen.
»Wir haben unsere Zuggäule verloren, was bedeutet, dass wir den Wagen zurücklassen müssen.
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